Sonntag, 30. Oktober 2011

Ausritt

Und Gott durchflutet Raum und Saal
sein Glanz erdrückt der Dunkel Qual
erdrückt der Teufel Todgesang
lässt schwinden all der Menschen Bang


Seine Mantel sind umhüllt mit Liebe
schenken den Herzen neue Triebe
umgeben die Trauer mit Musik
ein jeder spürt das Lebenslied


Im Rausch durch Fluten fort getragen
unser Sein fängt an sich sacht zu heben
an uns liegt es nun zu erleben
und das Schöne kosten wagen


Wenn nicht die Schwarz es überdecken
wie wohl vorher es uns geschehen
so trüb wir konnten nicht durchsehen
und aus Träumen uns wird wecken


Lass uns sein der Ferne Ritter
die da speisen ungezwängt
den Trank bekommen wir schon bitter
von dem der Alltagsleben lenkt


Zerzaust hat der Wind über Zyrian, der Ort eines Traumes, beim Kuss ihr Haar. Ein Kuss, der all den Zorn der Welten den bittersüßen Geschmack entriss, zu zweit in Einsamkeit zu leben. Beim Reiten droben auf den Sternen war all die Nähe ihnen, die Nähe, die sie ewig suchten, wirklich nah. Und nur der Tod kannte den Geschmack, der fade Tod von verwesenden Leibern allein wusste die Kraft, die ihre Lippen gaben, wenn einander sie berührten, im Schatten des Daseins des Bösen. Die Sonne schien. Sie musste scheinen. War sie denn nicht auch Schutz vor jenen, die immer nur der Dunkel Nahrung geben, die ewig wollen den Zorn erhalten und das Kreuz gegen Liebe richten, die qualvoll stark war gegen die Massen so vieler Geister in nur einer Haut?


»Lass uns auf dem Hügel die Bäume denken,
und lass das Meer dort drunten -
in unserem Geiste -
Kühle für uns sein.«


Seine Augen strahlten, wenn er so sprach, und er tat lieben ihn dafür. Die Erinnerung ging verloren an den Triumph der Fleischesgier, die unbarmherzig alles fressend niemals Halt sich gibt - auch nicht vor dem Herrn - der ihre Geburt in seinem Sein zu verbergen sucht. Mit seinen Blicken schrieb er Worte, und der Horizont war voll von Farben, die seine Augen mit der Kraft seiner Tiefe hinfort getragen in alle Weiten. Ganz zärtlich suchten Finger die des Nächsten und waren erschrocken durch die Wirklichkeit, die sie berührend macht und Röte in Gesichtern schwelgen ließ.


Es war wie immer das erste Mal in einer Zeit, die sich nicht messen ließ, die ganz verworrenen Gefühlen alles gab - die Ewigkeit.


»Schmecke mit mir das Grün,
und lasse uns später wie Blätter fallen
im Winde fort mit den Zeiten,
die immerzu ein Anfang sind.
Laß uns doch eingehen
in das Reich der Lebenden,
die in dem Tod
nur ein Pausenzeichen vermuten,
was Dir das Ende eines Traumes zeigt,
um dann den nächsten zu beschreiten.«


»Was sind wir doch fern«, so dachte er und hörte den Freund mit offenem Herzen sprechen, ließ ihn, begleitet vom Meeresrauschen, was jeder Muschel Inhalt wird, in die Tiefen der Sphären andersartiger Gedanken tauchen wie den Meeresgott.


Am ersten Tag, es war im April, als unsere Liebe stark war, tat sie töten. und es war nicht irgendein April. Es war nicht der, der auf Kalenderblättern so viele Seiten trotzen ließ und sich den Spaß erlaubte, auch einmal Mai und Januar zu sein. Am Brunnen in ihrem Garten standen Kerzen, die ewigen Zeugen mystischer Strahlen, die Einheit waren mit der Jahreszeit und nicht die wilden Wetter herrschen ließen. Sie wollten nicht flackern. Und der karge Wind gab sich auch nicht der Mühe hin. Ganz still warten war ihr Ziel auf Sinn und Unsinn menschlichen Triebes, der sie nun erheben sollte zu hellen Lichtern, die in die Tiefe zeigen und dennoch den Weg zum Tag reflektieren. Es war kein April an diesem Tag wie jeder andere. Es war unser Tag im April, den wir herbeigesehnt und dessen Sein uns schreckte trotz der Ruhe dieser Lichter am Brunnenrand, die mit uns teilen, die mit uns teilen ewig, weil ihr Schein doch nie erlischt. Gerade dann nicht, wenn ganz, ganz sachte unsere Finger Einheit schließen und den Schwur von Qual und Sünde zu befreien suchen.


Sie war so schön. Am Brunnenrand hat sie gestanden, und sie rief:


»Kommt her!
Die Zeit will unseren Hunger stillen.
Kommt und helft,
weil es der Königin Wunsch ist,
dem Brunnen kühles Nass zu nehmen.
Ein wenig nur voll Sehnsucht kosten
den Liebestrank von Generationen,
die hier ehedem Gegenwart fanden
im Schatten und auch neben dem Stein,
der diesen Trunk gefangen nimmt.«


»Ist es denn die Zeit,
die will?
Ist es denn nicht die Unzeit,
die uns,
die dir meine Königin
nicht die Gunst
folgender Tage schenken kann,
weil mit dem Nehmen auch das Geben ward
in allen Zeiten Regel?
Und so ließ diese Regel
dem Brunnen alles Sein
und die Generationen verblassen.«


Schwerter nun jagten seine Seele, und ihr Blick ward bös wie nie. Sie sprach:


»Was kann Gunst schon sein
für mich,
die stark ist und zerbricht,
was einmal wurde aufgestellt?
Was schon kann mir gegeben,
wenn mein Wille
Dich als Regen
gen Himmel fallen lässt?«


Der Gott des Zorns war ihre Kraft, und so schwieg er nun wie eh. Gar nicht weit weilte Luzifer im Kostüm »Lustdiedingeselbstinbewegungszusetzen«. Er trug ein Gewand aus goldenen Stoffen, die betäuben, die manchmal Menschen hoffend machen, daß das Glück wirklich ein Glück ist und nicht nur Schein. An seinen Fingern, die Speeren glichen, waren die Ringe, die stolz erleuchtet durch Höllenfeuer uns die Lebenswege deuteten. Ringe, die uns in diesem Garten Eden, der niemals Garten Eden war, durchführten, um Seelenheil in Blut getränkt zu Friedhofserde werden zu lassen. So sollen Barbaren sein der Freude Feind und der lüstern starrenden Augen, die sich hinterm Kreuz verstecken, um den Guten Gutes anzutun.


Versöhnlich sprach sie nun, die Versuchung wissend in ihrem Nacken und der Macht bewusst, dass ihr Liebesbiss noch immer tödlich ist:


»Kommt her von weit auf Engelsflügeln
und lasset uns Dreien Glocken sein,
die wahrlich sind die hellsten Töne,
wenn sie aneinander schlagen,
niemals nur eine ganz allein.«


Wie sie so sprach, gaben ihre Lippen dem Tag Erleben in sinnlichen Fluten, die all der Geister Kraft betören und gefangen nehmen in rotem Fleisch. Ihr Gott hat sie sich gleich geschaffen und Horizonte neu geformt, damit die Weite ihrer Augen nicht erstarrt an Konvention. Damit ihre Bewegung wie Kunst in die Menschen dringt und nur wiederkehrt als Sehnsucht nach dem Unheilvollem. So fiel ein Stern an diesem Tage, der doch mit Segen leiten muss, durchbrach der Strenge Hoffnungsträger Moral und teilte sie entzwei.


Die Dornen an den kahlen Asten von Rosenzweigen stachen tief. Doch unser Leid ward fort getragen zu den Ahnen auf den Gruften, auf denen heute noch gebettet des geliebten Vaters Knochenleib. Nichts half mehr. Nicht all das Warnen, wenn die Dämonen im Baume ihre Äste bogen, die Wege schlossen gar himmelwärts. Nicht half der Schrei, der nun starken Winde, die mit aller Kraft den Erdball sich einzuverleiben suchten, um Bewegungen anzuhalten, die in die falschen Tiefen zogen. In Schwarz hüllte sich der Tag. Aus Elfenbein allein ward Freiheit an den Himmel geschrieben, was da die Finsternis durchbrach. Des Teufels Ring Versuchung lockt.


»Oh Herr,
was warst Du groß
an diesem Tage,
als uns Du
diese Göttin hier erbrachst,
deren Adel doch schon Zeiten webten,
und ein golden Netz
aus Lust und Gier entstand.
Ein wenig Wasser
sollte für’s Leben sie begehren,
und wir als einzig Becher
waren ihr versagt.«


Und so schlug der Blitz in unsere Seelen, als Satan seine Formel sprach und Stück für Stück in Seifenblasen, die seinem Stab lautlos entschwanden, uns das neue Leben schmackhaft tat. Die wir bis heute aber nie erlangt, weil beim Berühren doch jedweder Traum zerplatzt. Als nun unsere Hände zum ersten Mal ganz offenbarend sich berührten für den Halt, den sie begehrt, da stand jeder Atem, da durchbrachen alle Klänge der Instrumente Form. Es gab nicht Geige oder Flöte. Die Dinge waren eins und ließen nicht an weltlich Schranken sich gefangen halten. In allen Farben zeigten sich die Lebensringe, und das uns glaubhaft Böse schwieg. An Zweigen dort erblühten Rosen aus Welten weit von anderem Gestein. Und der Bäume Fluch ward fort getragen, Platz machend dem satten Grün, dem in den ersten Tagen schon die Schöpfung hat zu Leben gemacht.


Ihr Griff war stark und kalt an unseren Händen. Und laut wurde Weiberklagen aus den Tempeln, die der Toten Seelen begleiten, in den Jahrhunderten seit Menschen Priester schlachten ließen, um Gott Moral ein Opfer zu erbringen.


Er sprach: »Ich liebe Dich mit meinem Wort
ebenso wie mit meinem Herzen.
Doch lass uns trennen
für den Augenblick,
um einmal Einheit in Ewigkeit zu sein.«


Ihr Lächeln ward das von Wissenden, die nie verlieren, weil doch sie den Sieg vergeben. Und gelähmt von der Hoffnung diesen zu erlangen, ließ ich los, was mir anvertraut für Sekunden aus Götterhänden, immer geleitet von den glänzenden Welten Luzifers und fiel ins Schwarz zu den Gestirnen, die jeder Liebe Unterschlupf gewähren.


»Allmacht fort mit den Gestirnen.
Reiß nicht heraus aus Menschenleib
der Seele Wurzel, die Du dort gefangen,
um Dein Werk Dir edel zu erbauen.«


Laut war der Schrei, der nie geschriehen wurde. Laut war der Ruf, der ungesagt noch hallt. So ward das Gute und das Böse plötzlich stumm wie nie zuvor, als es den Sieger tot im Sand gesehen, wie auch das Opfer all sein Leben da verlor.


Sie war so schön. Und ihr Götterglaube war stark im Spiel, was niemals wirklich existiert. Und doch waren wir Figuren, die im Akt nicht denken wollten, um dem Traum dem dunklen nicht Nahrung sein zu müssen, um der Hoffnung schnelle Gestalten ganz langsam sacht an uns zu heften, was sie ja gewollt, um des Tötens willens. In all den Jahren hatte sie getrieben. Von erster Stund, als wir einander sahen, vor ihrem Wagen laufend, an Luftschlössern und so vielen falschen Bildern vorbei, in das Schwarz ihrer Lungenflügel, durch die große Gruft in ihrem kleinen Herzen.


Nun aber war die Macht der Liebe stärker als die Liebe selbst. Aber wie immer Dinge sich in zweien teilen, verlor sie Leben und Untertan, und doch sie gewann. Nun ward der Fluch auf unseren Häuptern für Ewigkeiten hier am Meer und doch nicht dort zu sein. Wenn er den Baum dort auf dem Hügel preiste, so war es doch ein Baum im Garten der Fantasie.


»Wenn die Wahrheit Atem ist,
so stirbt der Traum an ihr,
und dunkle Erinnerungen
zerschmettern den Geist
bis in die Stunde,
in der alles vergeht,
in der der Unendlichkeit ein Ende naht.«


So ist der Kuss kein Kuss gewesen, und der Wind auf Zyrian hat nie zerzaust ihr Haar.


(aus dem Buch "Denkspiele")

Samstag, 3. September 2011

Die Kugel

Immer in der Nacht, in fast jeder Nacht, so erzählte Patrick während der gemeinsamen sonntäglichen Frühstücke, glaube ich aufzuwachen und fühle mich ganz besonders entspannt. Wenn ich meine Augen öffne, sehe ich in den schwarzen Weltraum und umso genauer ich hinschaue, desto deutlicher werden mir die kleinen, glitzernden Sterne, deren Helligkeit sich immer weiter steigert, solange, bis ich geblendet die Augen schließen will. Dann aber sehe ich alles nur noch schwarz. Die Sterne sind fort, jegliche Helligkeit ist fort und das Schwarze formt sich zu einer unglaublich großen Kugel, einer schwarzen Kugel, die mir tief im Bewusstsein mehrdimensional erscheint, obwohl ich sie mit den Augen nur eindimensional ausmachen kann. Umso näher die Kugel auf mich zukommt - und es scheint, als bewege sie sich dabei nicht - umso kleiner wird sie auch, und um sie herum scheint alles sehr hell, fast weiß. Dann, zum Ende des sich häufig wiederholenden Traumes, tritt die etwa wie mein Kopf große Kugel durch meine Stirn in mich ein, erfüllt mich mit Schwarz und fängt sachte an zu wachsen. In dem Augenblick, in dem ich zu bersten glaube, erwache ich, fühle mich frei, habe sogar das Gefühl, dass die Luft, die ich atme, eine ganz frische, besonders sauerstoffhaltige ist, und ich höre überall klassische Musik.

Patricks Vater, dem bekannt war, dass sein Sohn viel las, erklärte den Traum eben mit dieser Tatsache, während Mutter, nachdem Patrick ihr des Öfteren von diesem Traum erzählte, etwas bange um den psychischen Zustand ihres Sohnes wurde, denn sie war ohnehin schon immer der Ansicht, dass Patrick sich zuviel mit dem Lernen, Lesen und Schreiben beschäftigte, anstatt, wie andere Jugendliche in seinem Alter auch, sich die Zeit mit belangloseren Dingen, wie zum Beispiel Tanzen und Tennis die Zeit vertrieb. So entschloss sie sich eines Tages, Patrick beim Hausarzt anzumelden, einem Allgemein-Mediziner, der aber ebenso wie sie und Vater zu dem Ergebnis kam, dass der Sohn mehr Ablenkungen benötige, Sport treiben solle und dann sicher, ohne nachts zu träumen, schlafen könne. So verschaffte Patrick sich also Ablenkung. Er ging zum Tanzen, ging abends mit einigen Freunden in die Kneipe, spielte Tennis und besuchte zweimal die Woche die Schwimmhalle. Dennoch träumte er weiter den Traum mit der schwarzen Kugel.

Die Aufklärung dieser Träume sollte, so glaubten Vater und Mutter, eine Analyse durch einen Psychologen bringen, der der Familie durch den Hausarzt empfohlen wurde. Dieser meinte dann nach vielen Sitzungen und noch mehr Fragen, dass Patrick sich in eine Erlebniswelt hineinsteigere, von der er zuletzt auch noch träumen würde und versucht, durch diesen nun immer wieder berichteten selbst hervorgerufenen Traum, mehr Aufmerksamkeit durch die Familie zu erlangen. So gaben sich alle mit dieser Erklärung zufrieden und nahmen Patricks Erzählungen und Träume kaum noch ernst, bestanden häufig sogar darauf, dass er sie damit verschone. Das alles spielte sich über einen Zeitraum von fast zwei Jahren ab. Um Patricks Träumereien wurde es stiller und somit gerieten sie in Vergessenheit.

Vater hatte einen ruhigen und auch tiefen Schlaf. Einmal aber wurde er durch einen lauten Knall, als wäre etwas explodiert, aus eben diesem tiefen und ruhigen Schlaf gerissen. Dieser Knall schien - auch Mutter, die er aus dem Schlaf riss, war der Meinung - aus dem Zimmer Patricks zu kommen. Ohne weitere Umstände zu bereiten, eilten sie aus dem Schlafzimmer, über den Flur, an Patricks Tür, klopften zuerst, riefen seinen Namen, öffneten schließlich die Tür und Vater schaltete die Deckenbeleuchtung an. Ihre Blicke eilten wie von selbst durch Patricks Zimmer. Auf dem Schreibtisch lag eines von Patricks Ohren. Links neben dem Papierkorb, der am Schreibtisch stand, entdeckten sie Patricks Unterkiefer, zumindest einen Teil davon. Auf der Fensterbank lagen Patricks Kopfhaare, auf dem Sofa das zweite Ohr und daneben eines seiner Augen, dessen Flüssigkeit langsam in den Sofabezug einsickerte. Hie und da im Zimmer verstreut fanden sich Schädel- und Knochenteile, Hautfetzen, auf dem Schachbrett ein Augenlid, es sah zumindest so aus, gleich neben der Tür fanden sich zwei Zähne, wieder welche vor dem Kleiderschrank und Patricks Zunge war völlig zerrissen, zuckte noch einige Male, bis sie dann bewegungslos auf einem Buch im Bücherregal liegen blieb. Patricks Rumpf war bis zum Halsansatz völlig erhalten und lag, wie ein still Schlafender auf dem Bett, teilweise zugedeckt aber vollständig. Nirgendwo war Blut zu sehen. Die Deckenleuchte warf ein fast weißes Licht. Von der Finsternis der Nacht war nichts zu sehen und obwohl Patricks Mutter und sein Vater wie erstarrt in der Tür standen, hatten sie das Gefühl, zum ersten Mal seit langem eine besonders sauerstoffhaltige, frische Luft zu atmen und klassische Musik zu hören, als würde ein Leben neu entstehen.

(aus dem Band "Denkspiele")

Mittwoch, 24. August 2011

Der Menschenfresser

Alexander kam als Menschenfresser zur Welt. Diese Tatsache wäre ungewöhnlich gewesen, hätte einer der Anwesenden diesen Umstand bemerkt oder wäre das Neugeborene mit darauf hinweisenden körperlichen Merkmalen zur Welt gekommen. Dem jedoch war nicht so. Ob die Ärzte, Ammen oder später die Schwestern, keinem fiel diese Eigenart auf, niemand wusste davon, wie hätte man auch, gibt sich ein Kannibale zumeist erst durch eben jenen Akt zur Kenntnis, der ihn für die Umwelt zum Kannibalen werden lässt, niemand wusste also davon, ausser Alexanders Mutter und ihr Ehemann. Mutter und Vater waren auch Kannibalen, Mutter wurde zur Kannibalin, Vater war schon immer einer, schon immer will sagen, so wie sein Vater und dessen Vater, so wie die Väter all der Generationen dieses Stammes, von denen bekannt war, dass es sie gegeben hat, von denen nicht bekannt wurde, wie sie zu dieser Form des menschlichen Seins mutieren konnten, mit ungewöhnlicher Gradlinigkeit, ganz entgegen der evolutionären Entwicklung der Menschen im Allgemeinen und trotz der Verehelichung mit Nichtkannibalen, wie es z.B. die Mutter von Alexander einmal gewesen ist, vererbte sich dieses Phänomen und das immer auf die männlichen Nachfahren; Mutter und Vater hatten gemeinsam drei Kinder, alle drei waren männlich.

Alexander war der jüngste der drei Brüder und erfuhr somit auch die meiste Aufmerksamkeit der Eltern. Schon seine zwei älteren Brüder trugen das für diese Familie so typische, von anderen aber immer erst zu erkennende Merkmal, wenn es denn zu spät war, doch waren ihre Fähigkeiten, mit denen sie den Vorstellungen des Vaters hätten entsprechen können, nicht besonders ausgeprägt. Sie unterschieden sich nicht von anderen Kindern, außer natürlich durch den gelebten Kannibalismus, wiesen jedoch keine besonderen Talente oder Begabungen aus, waren nicht intelligenter als andere, nicht schöner oder größer, eigentlich in keinem Fall so, wie sie hätten sein müssen, um dem Anspruch des Vaters zu entsprechen, der naturgemäß seine Erbanlagen und insbesondere seine Eigenschaften, seine Vorstellungen vom Sein oder Nichtsein auf die Erben übertragen wollte, bei Alexander zu guter Letzt übertragen hatte.

Anfänglich gab es Probleme mit dem Kind. Vater sah sich nicht in der Lage, die notwendige Liebe, ob körperlich oder geistig, dem Heranwachsenden entgegenzubringen, obwohl ihm natürlich hätte klar sein müssen, dass jeder Mensch einer gewissen väterlichen Aufmerksamkeit bedarf, um in der Ausgeglichenheit der elterlichen Wärme zum Erwachsenen heranzureifen, der das Leben, wie auch immer es sich ihm stellte, meistert, lebt, überlebt. Für Alexanders Vater gab es jedoch nur ein Ziel in der Erziehung des Sohnes, Alexander hatte jene Bürde mit Disziplin zu tragen, die schon er, die schon all die Väter vor ihm mit Disziplin getragen hatten, er hatte sein Schicksal anzunehmen und eine Kopie des Originals zu sein, eines Standbildes, das hoch über den Köpfen der Familie hängend, ähnlich einem Damokles-Schwert, darüber wachte, dass die Dinge so blieben, wie sie waren, hatten sie sich doch bewährt, erwiesen sie sich doch so als gut.

Alle in der Familie, alle außer natürlich Vater, der das ihn Betreffende als gegeben hinnahm und gelernt hatte, nicht infrage zu stellen, hatten Schwierigkeiten mit der die Familie behaftenden Eigenart. Gerade für Mutter war die an die Liebe zu Vater gefesselte Bedingung des Miteinanders kaum zu ertragen und natürlich auch völlig unverständlich, sie, aus einfachen Verhältnissen stammend, eigentlich einmal eine gottesfürchtige Frau, eine, die das Leben als Leben nahm, die den Tag mit dem Morgen begann und den Abend zum Schlafen nutzte, hatte nicht die nötige Bildung und Tiefe, um nachzuvollziehen, um zu verstehen und aus Verständnis anzunehmen oder aus eben demselben Verständnis mit der Stärke ihres Charakters abzulehnen. Das war Vater bekannt, denn so wie er seine kannibalische Eigenart ererbte, ererbte er auch die Kriterien, nach denen er sich zu richten hatte, um sein Leben im Sinne der Tradition, der ungewöhnlichen, ja vielleicht sogar der tragischen Tradition, fortzuführen, denn für die Erfüllung eben dieser war das Leben selbst eigentlich weniger bedeutend, als der einzig mögliche und vorgezeichnete Weg durch das Leben Bedeutung hatte. War die Mutter eine besonders fröhliche Person, war es der Vater nicht. War der Vater, was in der Natur der Sache lag, ganz besonders zielstrebig, hatte die Mutter diese Eigenschaft nicht. Dennoch waren die Schwierigkeiten, die aus dieser Diskrepanz erwuchsen, weniger bedeutsam als die Möglichkeiten, die sich aus dieser charakterlichen Zusammengesetztheit der Frau und späteren Mutter ergaben.

Alexanders Mutter war ein leichtes Opfer, ein Opfer, das nicht verstehen musste, aber selbst das Unverstandene, vielleicht aber auch gerade das Unverstandene übernahm, das langsam und völlig unkompliziert an die kulinarische Eigenart des Vaters gewöhnt werden konnte, einhergehend mit dem Wachstum ihrer Liebe zum Vater, die eigentlich keine Liebe war, sondern eher als eine Gewöhnung und spätere Übereignung des eigenen Wesens darzustellen wäre. Ihre Naivität und Bodenständigkeit boten den Nährboden, den es bedarf, will man aus etwas Einfachem etwas Besonderes machen, will man das Bestehende, ein ohnehin nur sehr schwer mögliches Unterfangen, ändern, mehr noch gestalten, so formen, dass es einem selbst entspricht, dass es zu einem Teil des eigenen Seins entartet, zu einen Teil, den der eigene Körper nicht abstößt, den er nicht als Fremdes erkennen will, der nichts Fremdes ist. Dementsprechend wurde Mutter zum Teil des Vaters. Mutter übergab sich täglich nach dem gemeinsamen Mahl, anfänglich hatte sie dabei Schmerzen, körperliche und geistige, doch mit der Zeit schien das Sichübergeben zu einem festen Bestandteil des gemeinsamen Essens zu werden, die Schmerzen ließen nach, die Qualen auch. Mutter übergab alles, was ihr Magen aufnahm, zuletzt übergab sie sich, aus dem Äußeren wurde das Innen, ihre Innereien kehrten sich nach außen, Mutter wurde Innerei, zur Innerei des Vaters, nachdem dieser sie verschlungen hatte. Nun wurde es Zeit für die Kinder, denn dem Vater war klar, dass sein Überleben nur mit dem Tod anderer zu sichern war, mit dem Tod der Mutter ebenso wie mit dem Tod des richtig geborenen Sohnes, denn wie sich später herausstellte, waren die ersten zwei die falschen, mit ihrer Geburt starben sie jenen Tod, den der Vater erdachte, den zu verhindernden eigenen Tod nämlich, vorweggenommen durch die Söhne, eigentlich aber genau genommen gegen die Söhne, unbedingt jedoch für sich.

Mit der Geburt des Jüngsten jedoch gab Alexanders Mutter ihrem Sohn jene Fröhlichkeit mit, die nun mit ihrem Verschlingen durch den Vater, mit ihrem zukünftigen Sein als Teil des Ganzen genauso eine des Ganzen wurde, eine Keimzelle, die der Mutter ebenso wenig bewusst war oder werden konnte, wie sie dem Sohn jemals bewusst wurde, der zwar einen Teil der Mutter lebte, diesen aber tatsächlich nicht erlebte, bedingt doch die Fröhlichkeit nicht Dasessieschützenwollen, bedingt die gelebte Fröhlichkeit kein Denken darüber, nur ein leichtes Streifen, kein Niedergehen, nur ein oberflächliches Berühren, kein Festhalten. Alexander hielt an der Fröhlichkeit fest, er vertrat sie mit Wut und Jähzorn. Mit den Jahren gewöhnte sich der Junge an seine ihm vom Vater und den Vätern zuvor zugedachte Rolle, die er tatsächlich aber nicht erfasste, die dennoch zukünftig sein Leben mehr und mehr beeinflusste, bedingt durch die Methodik des Vaters, sein Leben bestimmte, gestaltete und seinen Kannibalismus förderte. Wenn auch mit Schwierigkeiten, so würgte er doch zuletzt die ihm zugedachten Speisen herunter und selbst die Übelkeitsgefühle, die physischen und psychischen Schmerzen, wurden durch die von Alexander falsch verstandene und dementsprechend ebenso falsch gelebte Fröhlichkeit unterdrückt, eigentlich aber heruntergewürgt.

Eines Tages aber begann, dies bedingt durch den Fehler, dass der Sohn Erbe beider Elternteile war, eine Verwandlung in Alexander. Jedes mal nach dem gemeinsamen Essen, stand der Junge auf, verließ das Esszimmer und ging ins Bad, wo er die schmerzvoll herunter gewürgten Mahlzeiten übergab und aus den nunmehr vor ihm liegenden Teilen neue Menschen formte. Anfänglich zwar unbeholfen, doch mit Hilfe von gegen den Willen seines Vaters durchgesetzten Kursen an einer Akademie für Bildhauerei, erhielten seine Schöpfungen Ausdruck, seine Arbeiten bekamen Dimensionen, die mit den immer größer werdenden inneren Schmerzen in gleicher Geschwindigkeit und mit der gleichen Intensität heranwuchsen und klar werden ließen, dass das Töten ein Gebären mit sich brachte und dass für Alexander das Verschlingen und das Gestalten notwendig waren, um jenes Gleichgewicht zu halten, das nötig war, um ihn so lange zu erhalten, bis er die Form angenommen hatte, die für ihn vorher gedacht war und die zu seinem Lebensziel werden sollte. Die sich langsam einfindende Unterstützung des Vaters für den ursprünglich so nicht gewollten Werdegang seines Sohnes ging einher mit der Tatsache, dass die von Alexander geformten Wesen jedes Mal wieder das Gesicht des Vaters trugen und somit sein Wohlwollen fanden, das Wohlwollen eines Mannes, dessen Spiegelbild ihm sein Ziel schien, als hätte er sich neu erschaffen, als hätte er durch den Sohn sich immer neu erschaffen und so den Fortbestand seines Wesens gesichert.

Alexander wohnte nun schon lange nicht mehr im gemeinsamen Haushalt mit dem Vater, und nur sehr selten wurden durch den Vater hindurch Erinnerungen an die Mutter wach, an jene unbeschwerte Fröhlichkeit, die wie ein Bindeglied zwischen ihm und dem Vater schien, die ihn bei allen Ablenkungen, bei allem Vernichten und Gestalten immer wieder an sein wirkliches Ziel erinnerte und deren Kraft mit den Jahren so sehr anschwoll, dass er sich diesem Sog nicht mehr entziehen konnte, unterbewusst wehrte, bewusst fügte. Wann immer Alexander die menschlichen Teile erwürgte und zu neuen Formen zusammenstellte, bedurfte es eines Teils seines Seins, um sich selbst die Nahrung zuzuführen, die er von dem Erbrochenen seit langem nicht mehr bekam und die nötig war, um sich am Leben zu erhalten. Mit der Zeit gingen einige Gliedmaßen verloren. Der zwischenzeitlich erwachsene Mann hatte keine Zehen, ihm fehlten Teile seiner Waden, der linken Hand drei Finger, den Armen fehlte die Muskulatur, nach und nach verschwand erst das eine, dann das andere Ohr, Alexander hatte keine Haare mehr, ihm fehlten eines Tages die Beine, die Hüften, und um so mehr er die fremden Teile in sich erbrach und damit neu gebar, desto wüster vergriff er sich an seinem Rumpf, an seinen Armen und zuletzt noch an seinem Hals. Langsam veränderte sich sein Kopf. Aus dem hübschen Gesicht verloren sich schon bald die Augen, immer stärker entwickelten sich seine Kiefer, der Kopf des Menschenfressers verwandelte sich in einen großen Mund, verwandelte sich in eine vernichtende und mit starken Zähnen ausgestattete Fressmaschine, die alles, was von Alexanders ursprünglichem Körper noch übrig blieb, verschlang, zuletzt selbst noch die Lippen und sich. Mit dem Zerfall seines Seins verlor sich gleichzeitig die Wirklichkeit seiner Schöpfungen, die Skulpturen zerfielen, die Körper lösten sich auf, und mit den Körpern verschwanden die Gesichter, hörte das Gesicht des Vaters auf zu existieren. Die unerträglichen Schmerzen des Vater schienen jene Quelle zu sein, die Alexander seinen Lebensweg finden ließen, das gesetzte Ziel erreichen ließen, in der Erbfolge einer Familie von Menschenfressern.

(aus dem Buch "Denkspiele")

Mittwoch, 3. August 2011

Der Gärtner

Gleich hinter den sechs Sargträgern gingen die Eltern, Väter und Mütter, verschiedener Zeiten, verschiedener Welten, Frauen mit hängenden Häuten in alten Gesichtern und leeren Blicken in müden Augen, Frauen, penibel, den Auftritt genießend, maßgeschneidert für diesen Tag, erhobenen Hauptes, die Falten verschminkt, das Alter verdrängend, Frauen, die alle einen Sohn gebaren, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Welten und nun zum ersten Mal gemeinsam sind, beim Tragen des Toten in seine Gruft, manche mit Tränen in den Augen, andere kämpfend mit diesen, wieder andere sie nicht befehligen könnend, alle aber geschwärzt in Trauer, vielseitiger, die ein Leben lang begleitend nun auch noch in die Grube geht. Und all der Weiber Ehemänner, manch einer mit eingefallenen Wangen, vom Dunkel in den Kopf gezerrten Augen, ehemals das Glück suchend, heute sich zufrieden gebend mit dem Leid, das sich nicht vermehrt, mit der Erkenntnis, schon in sich nichts mehr zu finden, manch einer noch jung im Alter, gigoloartig den Körper schwingend, die Lippen feucht haltend und den Mund halb offen, überall hinblickend, schnell und eifrig charmant gleichzeitig an jedem Ort zu sein, manch einer wieder mit hartem Blicke und einem starken Kinn, das alle Wege findet, mit Händen, die das, was sie greifen, niemals lassen, bis zum Tode nicht und auch nicht darüber hinaus und eines doch verband alle diese - nun Väter des Toten dort zu sein, dessen Leib der Verwesung nicht entrinnen würde, nicht den Tieren im Erdenreich, wenn erst einmal der Väter Hände Erde auf sein Haupt, auf seine Glieder gestreut hatten - Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub.

Gleich hinter den Sargträgern, den Müttern und Vätern, gingen die Brüder und Schwestern, die Onkels und Tanten, Cousinen und Cousins, die einen trüben Blickes, andere Blicke verstohlend schauend, gelangweilt, suchend, ausweichend, ermüdet, mit freundlichem Gesicht und mit unfreundlichem, mit so sehr schlecht sitzender Garderobe und auch mit geschmackloser, mit guten und teuren Stoffen, schwarze, mit nicht so guten schwarzen, Schwarz läßt sich schließlich nicht kaufen, Schwarz hat keinen Preis und keine Qualität, das wussten auch die Cousins und Cousinen, ebenso wie die ewig den Tratsch treibenden Tanten, an den Häusern ihn entlang treibend, weg von der Hauptstraße in die Gasse ihn treibend, weg aus der Gasse in das Tor, die Treppe hinauf ihn treibend un in die Kammern, von einer Kammer in die nächste, hinaus auf den Balkon, von einem zum anderen huschend, nicht ängstlich zu fallen, Tratsch kennt kein Sterben, fürchtet nie den Fall und mit ihm auch nicht den Tod, hintreibend bis zum Friedhof, an jede Gruft, vorbei an allen Steinen, mit vorgehaltener Hand, mit versucht vorgehaltener und sogar mit unbeteiligten Händen, die nur hängend auf Befehle wartend vergessen wurden im Trieb des Tratsches, vergessen wurden, anstatt aufgefordert, das Geheimnis zu schützen, obwohl nur ungeschützt es doch überlebt - übrigens jeden.

Wieviele Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde und Bekannte schlossen sich an dem Trauerzug, die guten Freunde ganz in dunkelblauen Stoffen, weil sie doch wussten, dass diese Farbe immer schon die seine war, getucht, der eine mit gutem Gewissen und wenig Trauer, der andere mit einem schlechten, belasteten Gewissen, aber dafür noch weniger Trauer, alles Freunde, die das Wort, was sie umschrieb in seiner Welt, streckten, gesperrt sprachen, jede Silbe überbetonend, jedem Buchstaben den gleichen zweimal dazu gefügt, um den Klang des einzelnen zu verlängern, dem gesamten Wort mehr Achtung zukommen zu lassen, wenn sie seines Sinnes bedurften, mühevoll waren sie kämpfend um einen Ausdruck, der manchmal mehr als Herkunft galt, aber ebenso mühevoll suchten sie die Bedeutung dieses Wortes, wenn an sie er herangetreten, wenn an sie eine Bitte ging, eine kleine, ganz unbedeutende, suchten sie in Lexika und fanden nicht, fanden nicht in der Erinnerung und auch nicht in den Windungen ihres Hirns, fanden das Wort Freund zuletzt nicht einmal in ihrem Herzen, das jämmerlich klein wurde in solchen Augenblicken, die - dem Himmel sei dank - nur selten sie belästigten.

Und natürlich waren all die Lehrer nicht zu vergessen, die würdevoll geschritten kamen, die niemals da, wo es ihrer bedurfte und auch dort niemals, wo sie fehl am Platze, mit ihrer Abwesenheit schreckten, mit lang gezogenen Gesichtern manche, mit Denkerstirn und andere mit einer Stirn, die gar den Denkern trotzte und viele waren Brillen tragend, tief auf der Nase sitzend, zu tief, um noch hindurchzuschauen, tief genug aber, um darüber hinweg zu sehen, mit hochgezogenen Augenbrauen und die hohen Stirnen, auch die nicht so hohen warfen Falten, die Wichtigkeit vermittelnd, Respekt einflößend waren, doch alles Lehrer, die immer nur im Recht gestanden, denn da, wo sie standen, war mit ihnen schlicht das Recht, weil nur mit ihnen eben auch immer all das Wissen war, war, wo sie standen, auch immer das Recht, was häufig schon gepeinigt werden musste, damit es nun von ihnen anerkannt überhaupt bestehen konnte, Lehrer, die alles abnorm empfanden, wenn es ihnen nicht ähnlich geraten oder gar missraten war, nachdenklich, schweigend, trauernd gingen sie, gebildete Trauer im Zuge.

So viele Menschen waren nun da, Menschen aus nur einem Leben, sich zwingend in die sehr kleinen Lücken, die die Buchstaben dieses Wortes ihnen ließen, mit Rosen roten und weißen, mit Orchideen sogar, Anteilnahme bekundend, im Gleichschritt viele, viele aber auch in kleinen, schneller aufeinander folgenden Schritten, manche in großen, wenigen, sehr bedächtigen Schritten, einige deren Schritte untergingen inmitten so vieler anderer, mit den Händen in den Taschen, vergraben in den Hosentaschen, Rocktaschen, manche mit geballter Faust, mit ineinander vergriffenen Händen, mit miteinander ringenden Händen, alle doch irgend etwas haltend, alle etwas nicht hergeben wollend, alle fröhlich der Gewißheit wegen, aber auch ängstlich vor dem Verlust. Und schaute man hin, ganz genau, was zum Teufel sie in den Händen hielten, die da zum Beispiel, die kleine da mit dem blonden Haaren, dem hochgesteckten, zu einem Dutt hochgesteckten, der ihrer Jugend die Würde der Alten verleihen sollte, er tat es nicht überzeugend, dann sah man es, was zwischen ihren Fingern das Tageslicht zu erblicken suchte, Luft zu erhaschen, Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die, so wie sie war, keine mehr war, eine Zärtlichkeit, die einmal sacht über fremde Körper zog, die nur erahnend Leben war, wenn auch nur Momente, um weiter wandernd auch den nächsten Körper noch zu betören, von ihr aber mit dem Netz der Gier gefangen, in die Welt des Habens eingebunden, eingepresst, koste es ihr Leben, sollte es ihre Vernichtung sein - und sie war es.

Und vorn der Herr mit rotem Seidentuch, das einmal frei die Lust am Kämpfen war, für nur den Kampf, den jeder kämpft im Leben, entweder mit der Wahrheit oder gegen sie, und er konnte es sich leisten, so wollte er glauben, das höchste Gut mit Geld zu kaufen, die Freiheit, frei zu sein vom Menschen, der ewig für ein Ideal gelebt und nun von ihm zu Grabe getragen, mit dem gebändigten Kampf in rot als Tuch, doch nicht mit dem wirklich wahren. Der Schöne dort mit den zarten Händen, er glaubte das Wissen in seinem Wesen, Herr über Tod und auch über Leben, denn wer gemalt von ihm den Rahmen verließ, der Leinwand seinen Rücken kehrte, der entzog sich auch dem ewigen Sein, dem zur Statue erhobenem Leben, wenn auch hoch gehangen und von allen bewundert, doch leblos starr in der Maler Händen.

So hatten viele, ob mit Amt und manche auch mit Würden oder einfach nur mit Geld und ebenso welche mit schönen Gesichtern, manche mit der Reife und andere mit der Jugend viel investiert in all den Jahren, ihr Haben geboten im Tausch für ein Sein, was durch ihre Mühen so hoch gehoben, dass kein Mann und keine Frau es je berührten in den Tiefen seines Gusses, was allein durch ihr Begehren einen Preis erhielt, der wirklich schon kein Preis mehr war und wollten stürzen, was sie einst erhoben, was nicht zu stürzen ging, denn es war eines jeden Traum, der ewig an den Horizonten der Geister im Kopf der Menschen scheinbar stand und mit jedem Schritt zu ihm er zwei Schritte sich entfernte. So trugen viele einen Traum zu Grabe, der trotz der Tiefe dieser Gruft hoch oben stand in ihren Wesen, weit höher noch als ihre Gedanken, weit lebendiger als ihre Herzen, in neuen Leben wiederkehrend, von denen es so viele gab in jeder Zeit.

Doch dann war da noch einer, jemand, dem der Zug doch ebenso fremd gewesen, wie wohl der Tote, der zuerst ganz hinten angelangt sich mit der Zeit, nicht schnell doch wirklich stetig, Zehen spitzelnd durch die Schweigen erfüllten Reihen gemogelt, Reihe und Reihe, Glied und Glied näher an das Geschehen, fragenden Blickes, staunenden Mundes, Lippen vibrierend, ganz aufgeregt vor Gier, mehr zu erfahren, mehr noch als Schweigen, mehr noch als das Schweigen zuließ, denn er war schließlich ein Fremder, in dunklen Hosen, in dunklem Mantel, ohne dunklem Binder, ohne Trauer im Gesicht, keine falsche und auch keine nicht falsch wirkende, mit wieseligem Verhalten, fremd dem Zuge, fremd wohl auch dem Toten, der Zeit fremd, wie auch dem Orte, und so war es diese Fremde, die ihn ausspie, hinaus aus der großen Gruppe, weit hinaus aus schweigenden Mündern, weit weg von findenden Augen, noch weiter fort von verschlossenen Ohren, gar fort von Händen, die gern besaßen, weil sie beschäftigt mit dem Erhalt, hin an den Rand des Zuges, hin an den Rand der Gräberzeile, hin an den Rand des Geschehens, hin zu dem Gärtner, der einfach da, unter blauem Himmel, an einem warmen, nicht zu warmen Frühlingstage, in Gegenwart so vieler Menschen, in Gegenwart so vieler Blumen und auch in Gegenwart der zeitlosen Toten, einfach da, dem Geschehen trotzend, seine Aufgaben tat, doch nun vom Fremden angesprochen, wen man dort zu Grabe trage, nur eine Sekunde innehielt und sagte: "Mich, mein Freund, mich."

(aus dem Buch "Denkspiele")

Dienstag, 26. Juli 2011

Harald Katze

Schon als Kind galt Harald als besonders sensibel. Oft ist eine solche überdurchschnittliche Sensibilität auf nachhaltig wirkende Erlebnisse im Zuhause zurückzuführen. Haralds Mutter hatte sehr unter seinem leiblichen Vater und ihrem Ehemann zu leiden. Die in dieser Ehe vorgefallenen tragischen Erlebnisse führten, dies trotz einer bestimmt da gewesenen gefühlsmäßigen Abhängigkeit der Mutter vom Vater, oder vielleicht auch gerade deswegen, zu Zerwürfnissen, zur Scheidung und schließlich zur endgültigen Trennung und was so dazuzugehören pflegt, Hass und wieder Hass. Eine Trennung, unter der übrigens nicht nur sie, die Mutter, sondern auch Harald und seine Geschwister stark litten. Zum Teil bewusst, zum größeren Teil aber unbewusst. Harald fehlte gerade in den frühen Kinderjahren die Zuneigung, die Liebe, auch die körperliche des Vaters. Stattdessen wurde er eben, als jüngstes Kind und auch auffallend sensibles, von der Liebe der Mutter erdrückt, fast sogar, bestimmt sogar, erschlagen. Das Gefühl, am Kind alles gutzumachen, gutmachen zu müssen, nachzuholen, nachholen zu müssen, was sie selbst nicht oder nur unter großem persönlichen Leid erfahren hatte, steigerte sich bei der Mutter zuletzt in einem Schuldkomplex, z.B. den Kindern gegenüber, so dass die daraus resultierenden Handlungen viel weniger der Liebe zum Kind entsprangen oder diese symbolisierten, als die Befriedigung der eigenen Verluste, den Ausgleich der von ihr angenommenen, bei sich selbst vorhanden geglaubten Schuld.

Genau genommen war Harald immer ein Außenseiter. Oftmals, so erzählte er später, wurde er für seine Andersgeartetheit von Mitschülern sogar verprügelt. Schutz gewährte eigentlich nur die symbolische, in Wirklichkeit aber nicht vorhandene Stärke der Mutter, die in dieser familiären Beziehung doch tatsächlich nur die Selbstbefriedigung suchte, wenn auch niemals fand. Nicht einmal wirklich mit ihrem zweiten Mann, dessen Zuneigung sicherlich einiges wettmachte, doch die schweren psychischen Leiden nie hätte ausgleichen können. Sehr viele Menschen sind sicherlich nicht weniger sensibel, feingliedrig und inhaltlich tief wirkend wie Harald. Dennoch war die sinnige Wirkung eine ungewöhnliche, musste sie sich doch mit einem viel grobschlächtigen Menschen messen lassen. Harald war ein hübscher Junge. Er war auch immer ein besonders netter Junge, wenn auch nie besonders interessant, wenn auch nicht besonders intelligent oder gebildet, sicher auch nie besonders begabt, aber eben ganz besonders nett, zumindest so wirkend. Abgesehen davon hätte auch keine von jenen Eigenschaften, hätten sie vorhanden gewesen sein sollen, eine besondere Ausprägung oder Schulung erfahren, denn genauso genommen wuchs der Junge ausschließlich in der Obhut der Mutter und somit auch in der Obhut derer sie, wie später auch ihn, beeinflussenden Soziologie auf, die heute schlechtesten falls als Kleinbürgertum abgehandelt wird, obwohl sie gerade in diesen Breiten doch die meist verbreitete ist.

Harald erlernte auch niemals das Kämpfen. Wie sollte er auch. Wenn doch gekämpft wurde, so tat es seine Mutter, ob nun gegen Haralds Vater, die Lebensumstände, gegen ihre manischen Depressionen oder gegen die eigenen Kinder und sich selbst, ihre Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche, die unbefriedigten. Wobei der Kampf gegen die Kinder ihr als einer für die Kinder schien, ja ihr scheinen musste. So hat Harald, wie man nun seine Kindheit, seine Jugend und sein Heranwachsen auch immer bewerten wollte, nur verloren. Er verlor den Vater, dessen dringlich benötigte Zuneigung und Aufmerksamkeit, er verlor gegen die Klassenkameraden einen Wettkampf, den er nie herausgefordert hatte. Verlor gegen seine Mutter, deren Egoismus, deren Überlebenswillen alles um sie herum nur noch erschlug, eben auch Harald und seine Geschwister erschlug, verlor und litt, litt so, wie es die Mutter vorlebte, litt für die Mutter, litt zuletzt für und mit sich.

Immer wieder wünschte sich Harald einen Freund. Jemanden, mit dem er hätte spielen, sprechen und Zärtlichkeiten austauschen können. Harald wünschte sich einen Kater. Als hätte der Kater gewusst, worum es hier ging, fand er schnell Zutrauen, zeigte auch deutlich, dass er sich insbesondere zu ihm hingezogen fühlte. Mikesch schlief nachts in seinem Bett, kuschelte sich an seinen Körper, und sie gaben sich gegenseitig Wärme, Geborgenheit. Harald fühlte sich dem Kater überlegen, endlich einmal war nicht er der Schwächere, endlich einmal gab es jemanden, der seines Schutzes bedurfte, sogar seiner Aufmerksamkeit, einer Form der Aufmerksamkeit, wie er sie im Laufe seiner Kindheit nie kennen gelernt hatte.

Einmal, es muss an einem Samstag im Laufe des ausgehenden Winters gewesen sein, Mikesch miaute unaufhörlich, fühlte sich nachhaltig vernachlässigt, schlug Harald immer wieder und wieder mit der flachen Hand auf seinen Kater ein. Mikesch hatte Schmerzen. Harald litt dafür. Der Kater gab herzzerreißende Laute von sich und starrte Harald ängstlich an. Der jedoch schlug weiter auf den Kater ein und sprach fortwährend von Liebe, mit leiser Stimme, zärtlich und teilnahmsvoll. Er litt, sprach von Liebe, litt und tat auch sich selbst leid. Danach nahm er seinen Freund in den Arm und weinte. Mikesch hatte große Schmerzen, da aber Harald von Liebe und Zärtlichkeit sprach, begann er erst sachte und dann immer heftiger zu schnurren. Als der Kater dann aber noch Tage nach diesem Zwischenfall humpelte, ging er mit ihm zum Tierarzt.

Ein anderes Mal, Harald lag auf seinem Bett und döste, träumte von dem, wovon er eigentlich wusste, es niemals erreichen zu können, als Mikesch sich auf das Bett schlich und mit einem Satz auf Haralds sich bewegendes rechtes Bein unter der Decke stürzte, so wie es wohl alle Katzen tun, wenn sie spielen wollen, und weil es ihrem Trieb entspricht, das sich Bewegende zu greifen, stieß er ihn von sich, brüllte heftig, riss den Kater am Nacken in die Höhe und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Mikesch schrie entsetzlich. Auf den Boden gefallen blieb er liegen und gab keinen Laut mehr von sich. Einige Male zuckten seine Glieder. Einige Male blinzelte er mit den Augen. Vor Schmerz wohl setzte er zum Schrei an, doch verließ kein Ton sein Schnäuzchen. Nach einigen Minuten des Abwartens und sich Besinnens, stand Harald auf, ging zum Kater, sprach von Geborgenheit und Wärme, während ihm die Tränen über sein Gesicht liefen und streichelte Mikesch. Die Zärtlichkeit in Haralds Stimme, das Streicheln seiner Hände und die Wärme seines Körpers ließen den Kater die Schmerzen vergessen, und er begann vor Sehnsucht zu schnurren, erst ganz zart und ängstlich und dann immer heftiger und lauter. Später stellte der Tierarzt mehrere gebrochene Rippen fest.

Der Kater ängstigte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr, obwohl er sicherlich gern mit Harald gekuschelt, sich den Hals oder das weiche Fell auf seinem Bauch streicheln lassen hätte, zuckte er zusammen, war Harald in der Nähe oder verkroch sich hinter bzw. unter einem Möbel. Manchmal dann aber, wenn Harald wieder zärtlich auf den Kater einredete, ihm etwas besonderes zum Fressen mitbrachte, manchmal, wenn Harald weinte, sich von seinem Freund missachtet, gar verstoßen fühlte, kroch Mikesch hervor, vorsichtig, ganz langsam, sachte, schlich um seine Beine, rieb sein Fell an Haralds Hosen, miaute und schnurrte, schnurrte, als wäre die Angst nie gewesen.

Harald malte. Er hatte kein besonderes Talent, seine Bilder waren sehr ungenau, eher noch unsauber, es fehlte ihm an Technik, ein künstlerischer Ausdruck war ohnehin nicht vorhanden. Es fehlte ihm an Selbstkritik, wie übrigens der Mutter auch, eher fühlte er sich minderwertig und nutzte das Malen, wenn auch nicht bewusst, psychotherapeutisch. Wenn er jedoch malte, gab es für Harald währenddessen nichts anderes, schien er sich wohl, ja geborgen und sicher zu fühlen. Er nahm seinen Kater, setzte diesen neben das sich in Arbeit befindliche Bild und befragte den Kater nach dessen Gefallen. Mikesch tapste quer über die Blätter, verwischte die Farben, stieß ein Wasserglas um und zerbiss sogar einen Bogen. Kaum war das geschehen, als Harald ihn sich griff, mit der Schnauze in die Farben stieß, den Kater rüttelte und anschrie, ihm zur Strafe die Pfötchen mit einem Feuerzeug verbrannte. Das alles durchdringende Schreien Mikeschs half nicht. Haralds Blicke waren starr, ausdruckslos, kalt. Seine Lippen waren schmal, sein Mund, sein Gesicht zynisch verzerrt. Er hielt den Kater am Schwanz fest, riss ihn von seiner Hose, an der er sich Sicherheit suchend festkrallte und warf ihn in die Spüle, in der er ihn dann mit Wasser übergoss. Der Arzt meinte spöttisch, dass Harald doch, bei dem, was seinem Kater alles so zustoßen würde, Tierarzt werden sollte, um somit den Kater nach jedem dieser Vorfälle gleich medizinisch versorgen zu können. Diesen bösen Hinweis nahm er ernst.

In jedem Semester erlernte Harald Neues über die Behandlung von Tieren. Er war sehr gewissenhaft, gewissenhafter und ausdauernder als bei all seinen sonstigen Beschäftigungen und Versuchen, aus sich und seinem Leben etwas zu formen, was bis dahin immer nach kurzer Zeit kläglich scheiterte. Harald betrieb dieses Studium wie ein Lebenswerk. Diesmal wollte er gewinnen, diesmal würde er durchhalten, es schien ihm wie ein Überlebenskampf, es schien ihm, als müsste er sich zur Wehr setzen gegen die Angriffe des Katers, gegen dessen Liebe und Zuneigung, gegen dessen Schmerzen und Leiden, sogar gegen dessen Verständnis, trotz der Gewalt, die Harald ihm antat, gegen das Bleiben des Katers, ohne dessen Bleiben er aber auch unzufrieden gewesen wäre, ohne dessen Zuneigung, Vertrauen und Liebe er sich einsam gefühlt hätte, noch einsamer, als in diesem mit dem Kater veranstalteten Wechselspiel aus Hass und Zärtlichkeit, einer von Harald gewünschten Zärtlichkeit und eines in Harald gegen sich selbst entstehenden und geführten Hasses. Was auch immer während des Studiums erlernt wurde, Harald führte es an seinem Kater durch. Wurde gezeigt, wie ein gebrochener Knochen zu schienen sei, brach er Mikesch ein Bein, um es danach dann zu schienen und ihn gesund zu pflegen. Mikesch liebte Harald und soweit es ein Kater kann, fühlte er sich in dessen Nähe beheimatet, hatte trotz all der Begebenheiten das Gefühl eines Zuhauses, auf das er nicht mehr verzichten wollte, nicht mehr zurückkehren müssend in das Tierheim, was ehemals sein Zuhause gewesen war, ein schlechtes, und aus dem Harald sich diesen Kater ausgesucht hatte.

Haralds Operationen wurden mit den Jahren immer grauenvoller. Einmal zerstach er dem Kater ein Auge. Ein anderes Mal entfernte er ihm eines seiner Gedärme oder er schnitt ihm in die Zunge, um sie anschließend behutsam wieder zu nähen. Nur noch selten schrie Mikesch. Er versuchte zu verstehen, diese Form der Zuneigung anzunehmen und ihr etwas abzugewinnen. Spürte er, das Harald nach Hause kam, schlich er gleich an die Haustür, nicht weil er sich nach den ihm zugefügten Schmerzen sehnte, sondern weil sich ein Verstecken ohnehin nicht lohnte, weil es sicherlich erträglicher war, gleich behandelt zu werden, als nicht zu wissen, was heute wieder auf ihn zukommen sollte. Die Qualen des Wartens waren oftmals schlimmer, als der tatsächliche Schmerz. Und genau genommen hatte alles seinen Preis. Wer wollte schon wissen oder entscheiden, ob er zu hoch, ob zu niedrig oder auch richtig bemessen war. Wer wollte schon wissen, ob Liebe überhaupt einen Preis hatte, richtige Liebe einen hohen, keine Liebe vielleicht einen noch höheren Preis oder in beiden Fällen vielleicht sogar überhaupt kein Preis zu entrichten wäre, was unwahrscheinlich schien, insbesondere Harald unwahrscheinlich schien, musste er doch sein Leben lang Tribut zollen, wurde ihm doch immer wieder klar gemacht, wieviel Entbehrungen er verursachte, mit wieviel Leid die Liebe für und zu ihm verbunden war.

Mikesch war eigentlich ein gutmütiges, ja sanftes Tier. Wenn sich der Kater auch schon einmal gegen die Angriffe seines Freundes zur Wehr setzte, doch immer auch nicht mit der Stärke, wie es möglich gewesen wäre, sicherlich nie mit jener Härte, die ausschließlich tötet, wollte er doch selbst leben und wusste, dass das Töten den eigenen Tod nach sich zieht. Das jedoch war Harald nie bekannt. In ihm gebar sich der Tod. Sein Wesen strahlte langsames Sterben aus. Wo er war, war mit ihm auch Kälte, wo immer er auch liebte, folgte der Hass, insbesondere der Hass, der sich gegen ihn selbst richtete, jener Hass, der ihm deutlich hätte machen müssen, daß der Schritt nach vorn von ihm gegangen werden musste, dass eben dieser Schritt ein mit und für ihn war, trotz des Schmerzes, weil Entwicklung doch auch mit Schmerz verbunden ist.

Heute, so vereinbarten Mutter und Vater, wollten sie sich in der Stadt treffen, früher als sonst das Büro verlassen, gemeinsam ein Geschenk für ihren Jüngsten aussuchen, denn er hatte alle Prüfungen seines Studiums bestanden, alle schriftlichen, es bedurfte nur noch der Vorbereitung auf die mündliche, aber beide hatten das Gefühl, dass ihm auch hier nichts passieren könne, dass er sich, übrigens gerade auch für die Mutter überwältigend, zum ersten Mal in seinem Leben durchsetzen würde, einmal gewinnen, entgegen seiner Ausstrahlung, seiner Erziehung, entgegen der scheinbar schon Familientradition.

Die Haustür war zweimal verschlossen, ungewöhnlich, da beide der Ansicht waren, dass Harald sich in der Wohnung befand. In den Eingangsflur tretend, sahen sie Harald mit dem Rücken auf dem Boden liegend. In der Wohnungsluft lag der Geruch von Katzenfutter. Auf dem Teppich entdeckten sie Katzenhaare, sogar einzelne Büschel. Neben der Esszimmertür befand sich ein Futternapf mit Wasser, am Ende des Flures ein Katzenklo. Sie sahen das, obwohl sie doch beide wussten, niemals eine Katze gehabt zu haben, schon deswegen nicht, weil Harald gegen Katzenfell allergisch war und sie, Mutter, auch kaum Zeit fand, sich neben der Arbeit, dem Haushalt und der Familie noch um ein Tier zu kümmern. Nirgendwo war Blut zu sehen, obwohl Haralds Hals, seine Gurgel, seine Halsschlagader von mehreren Bissen einer Katze zerrissen worden sein mussten. Den toten Jungen vor sich, vor ihren Füßen liegen sehend, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie gab keinen Laut von sich, Vater berührte sie. Sie atmete tief durch und hatte das Gefühl der Erleichterung.

(aus dem Buch "Denkspiele")

Montag, 18. Juli 2011

Die Späherin

Zuerst konnte Martin sich nicht an den Gedanken gewöhnen, denn offen gestanden war es nicht weit verbreitet, sich eine Ameise als Haustier zu halten, eine Ägyptische Wanderameise, wie sie genau genommen hieß, und er hatte noch von keinem gehört, der eine solche Ameise hielt, oder jemandem, der dieses Interesse mit Martin teilte: Ein Interesse, das gerade erst bei ihm geweckt wurde, von seiner Mutter. Martin behielt also diese Form der Tierhaltung für sich, auch wenn sie eigentlich mit der Haltung eines Hundes oder einer Katze zu vergleichen gewesen wäre, nur dass eine solche Ameise bedeutend weniger Auslauf benötigte, viel weniger Nahrung, keine Pflege und sonstige Attribute, die die Natur von einem forderte, wenn man sie oder einen Teil ihrer, weil ein Naturfreund, einsperren wollte, in die eigene so beschränkte Welt. Martins Mutter konnte es noch immer nicht glauben, dass es ihr wirklich gelungen war, also ihr und Vater, Martin von dem Halten einer Ameise zu überzeugen, und den Wunsch fallen zu lassen, ein Kaninchen aufzuziehen. Gerade diese Kaninchen, die natürlich kleine possierliche Tierchen waren, vermehrten sich leider wie die Ratten, meinte Martins Mutter bei Tisch, und ebenso wie die Ratten würden sie alles Erdenkliche an- und aufknabbern, womit ihrem Treiben noch lange kein Ende gesetzt würde, meinte Martins Mutter, nachdem sie die Vorsuppe ausgeschenkt hatte, denn, so fuhr sie fort, Kaninchen und gerade Kaninchen hätten nämlich eine Notdurft, wie alle anderen Tiere auch, aber eben viel häufiger, und eben diese Notdurft würden sie nicht, wie eine Katze, in einem Katzenklo besorgen, in diesem Falle in einem Kaninchenklo, spezifizierte die Mutter, auch nicht wie ein Hund einfach und ohne weitere Komplikationen auf der Straße, sondern dort, wo sie sich gerade aufhielten. Würde Martin eines halten, dann in der gemeinsamen Wohnung. Wer würde all die Unsauberkeiten einsammeln, sie überhaupt entdecken, da sie doch überall liegen könnten? Wer würde den Gestank aushalten, der zwangsläufig in der gemeinsamen Wohnungsluft läge? Zuletzt wohl niemand, endete Martins Mutter ihren Vortrag gleichzeitig mit dem Verspeisen der Vorsuppe. Da Martins Vater, der ohnehin nicht viel sagte, so gut wie nie zu irgend einem Thema Stellung bezog, diese dauernden Diskussionen über die Haltung eines Haustieres leid war, meinte er - und das mehr im Spaß - Martin könne ja eine Ameise halten, da würden die Probleme alle nicht auftauchen. Dieser plötzliche, fast schon verbale Ausfall von Martins Vater wurde von Mutter, mehr noch aber von Martin, sehr ernst genommen, denn wenn Vater schon mal etwas sagte, dann nur weil es unabdinglich, manchmal rettend, allemal aber sehr wichtig war: Ansonsten würde er es nicht aussprechen, würde schweigen, ganz seiner Gewohnheit entsprechend, wie er schon immer geschwiegen hatte, seitdem Martin denken konnte, geschwiegen im Gegensatz zur Mutter. Und als dann die Hauptmahlzeit serviert und verspeist wurde, Mutter das Kompott in die Schalen füllte, stand es endlich fest, Vaters Idee als eine ernstzunehmende zu nehmen, und eine Ameise, eine Ägyptische Wanderameise, die sollte es dann schon sein, als Haustier zu halten. Und Martin stimmte diesem Vorschlag zu, mit dem er zuerst nicht recht vertraut wurde, für den sich aber sein ansonsten so schweigsamer Vater sehr positiv einzusetzen schien und sogar das Wort ergriff. Vater erklärte sich bereit, mit Martin auf die Suche zu gehen, und Mutter stellte ein Glas aus ihrer Einweckglassammlung zur Verfügung, damit die Ägyptische Wanderameise einen ganz eigenen Lebensraum bekäme, richtete diesen mit Moos und kleinen Sträuchern ein, legte Erde und Sand hinzu und sogar einen kleinen Teich an, indem sie einen ausgedienten Fingerhut in das Moos drückte und mit Wasser füllte. Am späten Nachmittag war dann endlich eine Ameise gefunden, zumindest doch eine, die derjenigen Abbildung einer solchen ähnelte, die im Lexikon der Tierwelt als eine Ägyptische Wanderameise dargestellt wurde. Das neueste Lexikon war es zwar nicht mehr, aber es war auch schwer vorstellbar, dass sich das Aussehen einer Ägyptischen Wanderameise von Auflage zu Auflage änderte. Das alles geschah an einem Samstag, einem Samstag wie jeder andere, wäre da nicht die Diskussion über die Haustierhaltung, wäre da nicht die seltene verbale Äußerung des Vaters, die Suche nach einer Ameise und das Finden dieser bis hin zu dem handgreiflichen Engagement der Mutter und ihrem plötzlichen Einfallsreichtum bei der Gestaltung des Lebensraumes der ausgewählten Wanderameise gewesen. Eine so breite, eine so einhellige Verständigung hatte es nur selten in Martins Familie gegeben, und so brachte dieser Samstag auch neue Aspekte des familiären Zusammenlebens, Zusammenhalt und sogar etwas so seltenes wie Intervention vom Vater. Dies alles ging lange Zeit gut. Martin berichtete allmorgendlich beim Frühstück über seine Fortschritte beim professionellen Halten einer Wanderameise, und Mutter und Vater gaben Ratschläge und erfreuten sich an der Begeisterungsfähigkeit ihres Sohnes, wobei bei Mutter noch die Freude mitspielte, ohne viele böse Worte wieder einmal ihren Willen durchgesetzt zu haben, wie auch schon immer bei Vater, weswegen dieser auch so ausführlich schwieg. Eines Morgens aber nun erschien Martin nicht zum Frühstück, war zumindest unpünktlich, was zwar nichts Ungewöhnliches war, nämlich früher, doch nun, seit dem Halten einer Ameise in einem Glas aus Mutters Einweckgläsersammlung, etwas Ungewöhnliches barg, denn es hatte sich seither eingebürgert, dass Martin allmorgendlich über die Entwicklung seiner Ameisenhaltung Auskunft gab, weswegen er immer sehr pünktlich an dieser gemeinsamen Exkursion zur Erhaltung des Leibes teilnahm. Wobei hier gesagt werden muss, dass sich die anfangs nur mäßige Begeisterung für diese Form der Haustierhaltung bei Martin steigerte und vorerst kein Ende in der Steigerungsmöglichkeit abzusehen war, was Mutter im übrigen nicht störte, solange sich dieses Interesse nicht auf Kaninchen ausweitete. Zuerst rief sie, mit ihrem doch recht starken Organ, nicht durchdringend aber laut und deutlich nach Martin, versuchte ein abwartendes Schweigen, wiederholte ihren Ruf in gleicher Form, schwieg erneut und wurde in ihrem dritten Ruf bestimmter, auffordernder, etwas lauter auch, doch folgte Martin dieser fast schon drohenden Frühstückseinladung nicht, weswegen sie aufstand und zu seinem Zimmer ging. Wohl aus einem Reflex heraus rief sie noch einmal den Namen des Jungen, öffnete im selben Augenblick die Tür und war, bei dem Anblick dessen, was sie sah, seit vielen langen Jahren - denn Vater empfand die Jahre mit ihr als besonders lang, da für ihn auch besonders schweigsam - starr und stumm. Martin war nicht in seinem Zimmer, dafür aber befanden sich darin Millionen von Ägyptischen Wanderameisen.

(aus dem Buch "Denkspiele")

Montag, 11. Juli 2011

Blutrot passepatiert

Ralf Altmeyer lebte in einer kleineren Stadt im Saarland. Sie hatte weit weniger Einwohner als die großen Städte des Saarlandes, allemal aber auch bedeutend mehr als zum Beispiel Dörfer mit zu vielen Einwohnern oder Kreisstädte, die keine wirklich funktionierenden Städte waren. Ralf Altmeyers Heimatstadt, in der er geboren wurde und aus der er bis dahin nicht herausgekommen war, außer zu seiner Tante Gertrud, die doch in einiger Entfernung in Saarbrücken lebte, hatte etwa vierzigtausend Einwohner, von denen fünfzehntausend berufstätig waren und von denen wieder siebentausend im nahe gelegenen Bergwerk untertage arbeiteten. Die, die nicht als Kumpel beschäftigt waren, hatten Berufe und Tätigkeiten, die allemal indirekt mit dem Leben der Kumpel in Bezug standen. Ralf Altmeyer war einer von diesen; mit seinen fünfundvierzig Jahren fiel er nicht aus dem Rahmen, im Gegenteil war der Rahmen an manchen Tagen für ihn fast sogar zu groß, lebte in einer teils Eiche-modern und teils von seinen Eltern gestellten Möbeln eingerichteten 50 qm Wohnung, mit zwei Zimmer, die mit einem Kohleofen beheizt wurde - wie auch sonst ?!, allein und schaute, wenn er denn den Stadtanzeiger vollends durchgelesen hatte, sogar jene Artikel, die ihn überhaupt nicht interessierten, aus dem Fenster auf die nur wenig belebte Straße vor dem Haus, in dem er sich eingemietet hatte.

Noch war Ralf nicht verheiratet und es konnte sich auch kaum jemand diese Situation vorstellen. Einmal war er ein gut aussehender, sogar ein hübscher Junge. Das blieb er auch, bis er dreißig Jahre alt wurde. Langsam setzte seitdem eine Veränderung seines Aussehens ein, die nun wirklich nichts mit dem Altwerden zu tun hatte. Der, wenn auch sehr verhaltene, Charme verflog. Das kindliche Blitzen und Glänzen seiner Augen machte der matten Interessenlosigkeit Platz, das Staunen seines Mundes, dem Ausdruck öder Langeweile und Desinteresse. Leider setzte er auch mehr und mehr Gewicht an, was seinem nur mäßig gut proportionierten Körper nicht verschönte. Da er sich auch nicht besonders extravagant kleidete, wie sollte er auch, in seiner Heimatstadt gab es wirklich keine großen Vorbilder auf diesem Gebiet, alle trugen ausschließlich die Kleidung, die sich immer schon bewährt hatte, fiel er äußerlich überhaupt nicht auf und zu seinem früheren Bedauern, heute hatte er sich schon daran gewöhnt, fiel er überhaupt niemandem auf, also keinem Herren und schon gar keiner Dame, nicht einmal einer einfach strukturierten Frau. Früher stand er häufiger vor den Zeitungskiosken und betrachtete sich all die schönen und berühmten Frauen, die er sich nie wagte zu begehren, die aber wöchentlich wechselnd auf den Umschlägen der Magazine abgelichtet waren, von denen er sich aber nie auch nur eines gekauft hatte, wofür denn auch ?, der Frauen wegen wäre nicht anständig und für die täglich benötigte Information hatte er den Stadtanzeiger, der ja schon Vaters und Mutters Wissensdurst stillte und nun auch seinen.

Zwei Jahre zuvor etwa starb Ralfs Mutter, was für ihn ein großer Schlag gewesen ist, denn ohne auch weiter darüber nachzudenken, glaubte er, sie würde immer leben - also alle überleben - ewig. Zu seiner Mutter hatte er immer eine besondere Beziehung, eine bessere als zum Vater. Sie gestand ihm nämlich seine Marotten, wie Vater immer sagte, zu. Ralf interessierte sich für Geschichte und las wirklich jedes Blatt und jedes Buch, um über andere Zeiten und andere Völker etwas zu erfahren. Sein Vater hielt vom Lesen nicht viel; er, gelernter Schreiner und seit Jahren in diesem Beruf tätig, benötigte für seinen Beruf nie die Geschichtskenntnisse, die sich im Laufe der Jahre von Ralf angeeignet wurden, trotzdem konnte er die Familie, also sich, die Mutter, Ralf und Ralfs Schwester, Hella, ernähren. Schreiner sein war ein anständiger Beruf, ein Beruf, in dem ein Mann mit seinen Händen arbeiten mußte, hart arbeiten. Lesen und Geschichte waren da etwas für Schwächlinge, eigentlich nur für die Frauen, wenn die Kinder aus dem Hause waren. So war Ralfs Vater nie besonders stolz auf seinen Sohn, obwohl ihm viele dazu rieten, denn schließlich war Ralf einer der nachdenklicheren und mehr gebildeten Jungen, allemal aber keiner von der Straße, der mit aufgeschlagenen Knien und schmutzigen Kleidern nach der Schule nach Hause kam.

Auch zu Hella hatte Vater kein besonderes Verhältnis. Sie, die heute mit einem viel älteren Dorfschullehrer verheiratet, eben in dem Dorf lebte, in dem ihr Ehemann Lehrer war, war von Kindesbeinen an immer schon recht selbständig, entwickelte sich sogar zu einem herrischen Mädchen, das leider nur wenig mit den Attributen eines Mädchens zu tun hatte, was den Vater natürlich nicht freuen konnte, weil bekanntermaßen alle Väter eben gerade ihre so sensiblen, puppenhaften, kleinen Mädchen lieb hatten, lieber als die Söhne und sowieso lieber als Ralf.

Eigentlich unterschied sich das Leben, dem Ralf anheim fiel, nicht von dem Leben all der anderen Bewohner der Kleinstadt im Saarland. Ebenso wie bei allen anderen, war seine Kindheit, wie die Jugend auch und auch sein bis dahin gelebtes Leben, gleichmäßig mit einer grauen Kohlestaubschicht überzogen, einer Staubschicht, deren Grau sich jeden noch vorhandenen Freiraum im Laufe der Zeit einverleibte, wie es sich auch die Wochentage, Wochenenden und sogar die Feiertage einverleibte, ein Grau, das den ganzen Tag lauernd auf einen Sonnenstrahl, dem nicht bekannt war, dass gerade dieses Städtchen ein Sperrgebiet für Sonne, für Helligkeit und besonderer Lebensqualität war, diesen, wenn er sich dann mal verlaufen hatte, sofort im Keime erstickte. Doch all das berührte Ralf Altmeyer nicht, konnte ihn auch nicht berühren, denn im Laufe der Jahre wurde er selbst zu einem Teil dieses Graues - wie alle anderen Bewohner auch, die ähnlich wie er nicht herauskamen, außer ab und zu, außer ein-, zweimal in vielen Jahren, zu ihrer Tante, die vielleicht, wie Ralfs Tante auch, in Saarbrücken lebte. Mehr noch wurde Ralf Altmeyer im Laufe der Jahre selbst zu einer Facette dieses täglichen Grauens, wurde das Grau manchmal auch selber.

Einmal, es muss an einem Feiertag gewesen sein, denn Ralf hatte nicht an den Arbeitsplatz gehen müssen, auch der Stadtanzeiger wurde nicht ausgeliefert, schob er sich einen alten Sessel an sein zur Straße hingewandtes Fenster, brühte sich eine Tasse Kaffee auf, nahm ein wenig Gebäck aus dem Schrank, setzte sich und blickte hinaus. Alles war an sich wie immer. Auf der Straße gab es keinen Verkehr und es befanden sich kaum Fußgänger zwischen den Häusermauern. Wie immer bedeckte der graue Kohlestaub alles, was nicht ohnehin schon ergraut war und sogar die weiten und asphaltgrauen Flächen dieser Stadt und ihrer Einwohner. Da plötzlich sah Ralf, zuerst nicht genau, nur schemenhaft, dann, weil immer näher kommend, somit also genauer, eine hoch gewachsene Frau, mit schlanken, nicht zu schlanken Beinen, hoch gewachsen und damenhaft schreitend, mehr war dieses Schreiten ein Schweben, ein Nichtdenbodenberühren oder auch ein Gleiten. Für hiesige Verhältnisse war sie schön, für hiesige Verhältnisse war sie modisch gekleidet und die wenigen Menschen, ob Frauen oder Männer, die ihr auf dieser sehr ruhigen Straße begegneten, blickten sich nach ihr um, Frauen die Nase rümpfend, Männer die Augenbrauen hochziehend. Ihr ganzes Auftreten war natürlich schon allein außergewöhnlich, dennoch hatte sie etwas, was dem Außergewöhnlichen noch einen unübersehbaren Anschein gab - ihre Haare.

Die große, schöne Stirn sich selbst überlassend, fiel die prächtige Haarmähne, leicht gelockt, nach hinten, links und rechts auf die Schultern, und wenn eine kleine Windböe durch die Straße zog, ließen sich die Haare an langer Leine forttragen, wie wild geworden wirkend, sogar ins schöne, nicht zu zierliche Gesicht fallend, von ihren Händen mit den langen Fingern, die in rot lackierten Fingernägeln endeten, zurechtgewiesen und wieder vom Winde fort getragen, kämpfend mit dem erkalteten Grau, kämpfend mit der Eintönigkeit der Farben, diesen Kampf sogar gewinnend, zumindest empfand es Ralf Altmeyer so, der zwischenzeitlich die Kaffeetasse abgesetzt und sich von seinem Sessel erhoben hatte und gegen die Rahmen des Fensters gelehnt, hinausschaute, mit offenem Mund, sich die Augen reibend, denn die Haarpracht war rot. Ein so klares Rot, ein so kämpfendes Rot, sich den Alltag einverleibendes Rot, was vor dem Grau nicht schreckte, so etwas hatte Ralf nie zuvor bewusst wahrgenommen, eine Frau, die in vielen großen Städten sicher niemanden in Erstaunen gesetzt hätte, bestimmt auch dort als attraktiv erkannt, aber sicher nicht als außergewöhnlich, eine Frau, zu der Ralf sich hingezogen fühlte, zu der Ralf ein viel innigeres Verhältnis hatte, als er es hätte haben können, mit der er viel mehr verband, als eben nur das normale Gefallenfinden, vielleicht sogar, und das ist schon sehr weit hergeholt, das Sichverlieben.

Wie oft schon hatte er sich in Träumen gesehen, wie oft schon hatte er ihr nachgestellt in wildem Schlafdämmer, bis er das Ziel nicht erreicht, erwachte, mit dem Tageslicht konfrontiert, in seinem Zimmer noch ihren Duft zu erhaschen suchte, ein heraus gefallenes Taschentuch, eine Haarnadel. Nun war Tag, nun schlief er nicht und das Geschehen auf der Straße war nicht das Geschehen in seinen Träumen, diesmal wollte er sie nicht verlieren, diesmal gäbe es kein Erwachen, kein Verschwinden in den Sphären nicht gelebter, nicht einmal geträumter, psychischer Dunkelheit, diesmal wollte er zugreifen, endlich den Traum zum Ende führen, ein für allemal sich ihm stellen und kämpfen, bis er unterlegen war, denn das sollte sicher sein, Ralf wollte diese Auseinandersetzung nicht verlieren.

Schnell warf er sich eine leichte Sommerjacke über, fand sich auf der Straße vor dem Haus wieder, des Weges dorthin nicht erinnernd, wartete, den Rücken zur Straße gekehrt, ab und zu über die Schultern luschernd, ob sie denn schon vorbeikäme, ließ sie auf der anderen Straßenseite an sich vorbeigehen und schloss sich im gleichen Tempo dem Fortgang der feurigen, rothaarigen, zur Wirklichkeit gewordenen Traumfrau an. Er fühlte sich erinnert an seine Jugendjahre, erinnert an den so sehr geliebten Geschichtsunterricht in der Schule, an all die Bücher, die ihm so viele andere Welten zeigten, ihn durch all die Jahrhunderte begleiteten. Er fühlte sich erinnert an das Hexentreiben im Mittelalter. Er trieb über Kopfsteinpflaster, an Handwerkshäusern vorbei, durch Straßen und Gassen, er trieb an Plätzen vorbei, trieb mit vielen hundert anderen Menschen durch die schlechten und auch durch die guten Wohnviertel, vorbei am Rathaus, grölend, schimpfend, Flüche herausschreiend, manche den Herrgott um Hilfe an bittend. Das Blut der Massen brodelte, der Boden bebte unter dem Stampfen so vieler. Die Gier zum Töten wurde schmackhaft, die trockene Luft tat ihren Teil, der Durst nach warmen Blut, nach zuckenden Gliedern, nach Innereien wurde wach, erfasste jeden, heizte die Massen an, ließ sie und mit ihr Ralf schneller treiben, dem dunklen Qualm entgegen, dem Geruch von Feuer, verbranntem Holz, dem Scheiterhaufen auf dem Platz vor der Kirche entgegen.

Schnell fand sich auch Ralf dort ein, stand gebannt vor den meterhohen Flammen, sah die Helfer der Exekution Holz nachwerfen, griff selbst zum Holz und warf es auf die Kohlen, hörte die Priester die Formeln der Teufelsaustreibung sprechen, hörte die Offiziellen das Urteil sprechen, hatte errötete Wangen, von den Flammen aufgeheizte, feuchte Hände, einen vom Schweiß verschwemmten Rücken, schrie in der Lust des Tötens, schrie in Ekstase, mehr als sie je aus ihm herauskam, brach die Gewalt seines Wesens die Schranken der Mittelmäßigkeit, flutete über die Felder des eintönigen Seins in die Gräben der Lust, umschlang jede Wurzel kleinbürgerlicher Herkunft - erwürgte, weil man nicht durfte, was man tief in sich doch wollte, brennendes Fleisch atmen, noch heißes Blut den Wunden entnehmen, sich betrinken weiter hinein in den Rausch, Hexen, Hexen, Hexen mit rotem Haar, Hexen mit langen Beinen, die überall den Anstand verdarben, im Feuer stehend, nicht schreien könnend vor Schrecken, auf dem Weg in Satans Burgen, Hexen wie die seine es war, die er nun am Haar gepackt in die höllenden Feuerfunken stürzte.

(aus dem Buch "Denkspiele")