Montag, 11. Juli 2011

Blutrot passepatiert

Ralf Altmeyer lebte in einer kleineren Stadt im Saarland. Sie hatte weit weniger Einwohner als die großen Städte des Saarlandes, allemal aber auch bedeutend mehr als zum Beispiel Dörfer mit zu vielen Einwohnern oder Kreisstädte, die keine wirklich funktionierenden Städte waren. Ralf Altmeyers Heimatstadt, in der er geboren wurde und aus der er bis dahin nicht herausgekommen war, außer zu seiner Tante Gertrud, die doch in einiger Entfernung in Saarbrücken lebte, hatte etwa vierzigtausend Einwohner, von denen fünfzehntausend berufstätig waren und von denen wieder siebentausend im nahe gelegenen Bergwerk untertage arbeiteten. Die, die nicht als Kumpel beschäftigt waren, hatten Berufe und Tätigkeiten, die allemal indirekt mit dem Leben der Kumpel in Bezug standen. Ralf Altmeyer war einer von diesen; mit seinen fünfundvierzig Jahren fiel er nicht aus dem Rahmen, im Gegenteil war der Rahmen an manchen Tagen für ihn fast sogar zu groß, lebte in einer teils Eiche-modern und teils von seinen Eltern gestellten Möbeln eingerichteten 50 qm Wohnung, mit zwei Zimmer, die mit einem Kohleofen beheizt wurde - wie auch sonst ?!, allein und schaute, wenn er denn den Stadtanzeiger vollends durchgelesen hatte, sogar jene Artikel, die ihn überhaupt nicht interessierten, aus dem Fenster auf die nur wenig belebte Straße vor dem Haus, in dem er sich eingemietet hatte.

Noch war Ralf nicht verheiratet und es konnte sich auch kaum jemand diese Situation vorstellen. Einmal war er ein gut aussehender, sogar ein hübscher Junge. Das blieb er auch, bis er dreißig Jahre alt wurde. Langsam setzte seitdem eine Veränderung seines Aussehens ein, die nun wirklich nichts mit dem Altwerden zu tun hatte. Der, wenn auch sehr verhaltene, Charme verflog. Das kindliche Blitzen und Glänzen seiner Augen machte der matten Interessenlosigkeit Platz, das Staunen seines Mundes, dem Ausdruck öder Langeweile und Desinteresse. Leider setzte er auch mehr und mehr Gewicht an, was seinem nur mäßig gut proportionierten Körper nicht verschönte. Da er sich auch nicht besonders extravagant kleidete, wie sollte er auch, in seiner Heimatstadt gab es wirklich keine großen Vorbilder auf diesem Gebiet, alle trugen ausschließlich die Kleidung, die sich immer schon bewährt hatte, fiel er äußerlich überhaupt nicht auf und zu seinem früheren Bedauern, heute hatte er sich schon daran gewöhnt, fiel er überhaupt niemandem auf, also keinem Herren und schon gar keiner Dame, nicht einmal einer einfach strukturierten Frau. Früher stand er häufiger vor den Zeitungskiosken und betrachtete sich all die schönen und berühmten Frauen, die er sich nie wagte zu begehren, die aber wöchentlich wechselnd auf den Umschlägen der Magazine abgelichtet waren, von denen er sich aber nie auch nur eines gekauft hatte, wofür denn auch ?, der Frauen wegen wäre nicht anständig und für die täglich benötigte Information hatte er den Stadtanzeiger, der ja schon Vaters und Mutters Wissensdurst stillte und nun auch seinen.

Zwei Jahre zuvor etwa starb Ralfs Mutter, was für ihn ein großer Schlag gewesen ist, denn ohne auch weiter darüber nachzudenken, glaubte er, sie würde immer leben - also alle überleben - ewig. Zu seiner Mutter hatte er immer eine besondere Beziehung, eine bessere als zum Vater. Sie gestand ihm nämlich seine Marotten, wie Vater immer sagte, zu. Ralf interessierte sich für Geschichte und las wirklich jedes Blatt und jedes Buch, um über andere Zeiten und andere Völker etwas zu erfahren. Sein Vater hielt vom Lesen nicht viel; er, gelernter Schreiner und seit Jahren in diesem Beruf tätig, benötigte für seinen Beruf nie die Geschichtskenntnisse, die sich im Laufe der Jahre von Ralf angeeignet wurden, trotzdem konnte er die Familie, also sich, die Mutter, Ralf und Ralfs Schwester, Hella, ernähren. Schreiner sein war ein anständiger Beruf, ein Beruf, in dem ein Mann mit seinen Händen arbeiten mußte, hart arbeiten. Lesen und Geschichte waren da etwas für Schwächlinge, eigentlich nur für die Frauen, wenn die Kinder aus dem Hause waren. So war Ralfs Vater nie besonders stolz auf seinen Sohn, obwohl ihm viele dazu rieten, denn schließlich war Ralf einer der nachdenklicheren und mehr gebildeten Jungen, allemal aber keiner von der Straße, der mit aufgeschlagenen Knien und schmutzigen Kleidern nach der Schule nach Hause kam.

Auch zu Hella hatte Vater kein besonderes Verhältnis. Sie, die heute mit einem viel älteren Dorfschullehrer verheiratet, eben in dem Dorf lebte, in dem ihr Ehemann Lehrer war, war von Kindesbeinen an immer schon recht selbständig, entwickelte sich sogar zu einem herrischen Mädchen, das leider nur wenig mit den Attributen eines Mädchens zu tun hatte, was den Vater natürlich nicht freuen konnte, weil bekanntermaßen alle Väter eben gerade ihre so sensiblen, puppenhaften, kleinen Mädchen lieb hatten, lieber als die Söhne und sowieso lieber als Ralf.

Eigentlich unterschied sich das Leben, dem Ralf anheim fiel, nicht von dem Leben all der anderen Bewohner der Kleinstadt im Saarland. Ebenso wie bei allen anderen, war seine Kindheit, wie die Jugend auch und auch sein bis dahin gelebtes Leben, gleichmäßig mit einer grauen Kohlestaubschicht überzogen, einer Staubschicht, deren Grau sich jeden noch vorhandenen Freiraum im Laufe der Zeit einverleibte, wie es sich auch die Wochentage, Wochenenden und sogar die Feiertage einverleibte, ein Grau, das den ganzen Tag lauernd auf einen Sonnenstrahl, dem nicht bekannt war, dass gerade dieses Städtchen ein Sperrgebiet für Sonne, für Helligkeit und besonderer Lebensqualität war, diesen, wenn er sich dann mal verlaufen hatte, sofort im Keime erstickte. Doch all das berührte Ralf Altmeyer nicht, konnte ihn auch nicht berühren, denn im Laufe der Jahre wurde er selbst zu einem Teil dieses Graues - wie alle anderen Bewohner auch, die ähnlich wie er nicht herauskamen, außer ab und zu, außer ein-, zweimal in vielen Jahren, zu ihrer Tante, die vielleicht, wie Ralfs Tante auch, in Saarbrücken lebte. Mehr noch wurde Ralf Altmeyer im Laufe der Jahre selbst zu einer Facette dieses täglichen Grauens, wurde das Grau manchmal auch selber.

Einmal, es muss an einem Feiertag gewesen sein, denn Ralf hatte nicht an den Arbeitsplatz gehen müssen, auch der Stadtanzeiger wurde nicht ausgeliefert, schob er sich einen alten Sessel an sein zur Straße hingewandtes Fenster, brühte sich eine Tasse Kaffee auf, nahm ein wenig Gebäck aus dem Schrank, setzte sich und blickte hinaus. Alles war an sich wie immer. Auf der Straße gab es keinen Verkehr und es befanden sich kaum Fußgänger zwischen den Häusermauern. Wie immer bedeckte der graue Kohlestaub alles, was nicht ohnehin schon ergraut war und sogar die weiten und asphaltgrauen Flächen dieser Stadt und ihrer Einwohner. Da plötzlich sah Ralf, zuerst nicht genau, nur schemenhaft, dann, weil immer näher kommend, somit also genauer, eine hoch gewachsene Frau, mit schlanken, nicht zu schlanken Beinen, hoch gewachsen und damenhaft schreitend, mehr war dieses Schreiten ein Schweben, ein Nichtdenbodenberühren oder auch ein Gleiten. Für hiesige Verhältnisse war sie schön, für hiesige Verhältnisse war sie modisch gekleidet und die wenigen Menschen, ob Frauen oder Männer, die ihr auf dieser sehr ruhigen Straße begegneten, blickten sich nach ihr um, Frauen die Nase rümpfend, Männer die Augenbrauen hochziehend. Ihr ganzes Auftreten war natürlich schon allein außergewöhnlich, dennoch hatte sie etwas, was dem Außergewöhnlichen noch einen unübersehbaren Anschein gab - ihre Haare.

Die große, schöne Stirn sich selbst überlassend, fiel die prächtige Haarmähne, leicht gelockt, nach hinten, links und rechts auf die Schultern, und wenn eine kleine Windböe durch die Straße zog, ließen sich die Haare an langer Leine forttragen, wie wild geworden wirkend, sogar ins schöne, nicht zu zierliche Gesicht fallend, von ihren Händen mit den langen Fingern, die in rot lackierten Fingernägeln endeten, zurechtgewiesen und wieder vom Winde fort getragen, kämpfend mit dem erkalteten Grau, kämpfend mit der Eintönigkeit der Farben, diesen Kampf sogar gewinnend, zumindest empfand es Ralf Altmeyer so, der zwischenzeitlich die Kaffeetasse abgesetzt und sich von seinem Sessel erhoben hatte und gegen die Rahmen des Fensters gelehnt, hinausschaute, mit offenem Mund, sich die Augen reibend, denn die Haarpracht war rot. Ein so klares Rot, ein so kämpfendes Rot, sich den Alltag einverleibendes Rot, was vor dem Grau nicht schreckte, so etwas hatte Ralf nie zuvor bewusst wahrgenommen, eine Frau, die in vielen großen Städten sicher niemanden in Erstaunen gesetzt hätte, bestimmt auch dort als attraktiv erkannt, aber sicher nicht als außergewöhnlich, eine Frau, zu der Ralf sich hingezogen fühlte, zu der Ralf ein viel innigeres Verhältnis hatte, als er es hätte haben können, mit der er viel mehr verband, als eben nur das normale Gefallenfinden, vielleicht sogar, und das ist schon sehr weit hergeholt, das Sichverlieben.

Wie oft schon hatte er sich in Träumen gesehen, wie oft schon hatte er ihr nachgestellt in wildem Schlafdämmer, bis er das Ziel nicht erreicht, erwachte, mit dem Tageslicht konfrontiert, in seinem Zimmer noch ihren Duft zu erhaschen suchte, ein heraus gefallenes Taschentuch, eine Haarnadel. Nun war Tag, nun schlief er nicht und das Geschehen auf der Straße war nicht das Geschehen in seinen Träumen, diesmal wollte er sie nicht verlieren, diesmal gäbe es kein Erwachen, kein Verschwinden in den Sphären nicht gelebter, nicht einmal geträumter, psychischer Dunkelheit, diesmal wollte er zugreifen, endlich den Traum zum Ende führen, ein für allemal sich ihm stellen und kämpfen, bis er unterlegen war, denn das sollte sicher sein, Ralf wollte diese Auseinandersetzung nicht verlieren.

Schnell warf er sich eine leichte Sommerjacke über, fand sich auf der Straße vor dem Haus wieder, des Weges dorthin nicht erinnernd, wartete, den Rücken zur Straße gekehrt, ab und zu über die Schultern luschernd, ob sie denn schon vorbeikäme, ließ sie auf der anderen Straßenseite an sich vorbeigehen und schloss sich im gleichen Tempo dem Fortgang der feurigen, rothaarigen, zur Wirklichkeit gewordenen Traumfrau an. Er fühlte sich erinnert an seine Jugendjahre, erinnert an den so sehr geliebten Geschichtsunterricht in der Schule, an all die Bücher, die ihm so viele andere Welten zeigten, ihn durch all die Jahrhunderte begleiteten. Er fühlte sich erinnert an das Hexentreiben im Mittelalter. Er trieb über Kopfsteinpflaster, an Handwerkshäusern vorbei, durch Straßen und Gassen, er trieb an Plätzen vorbei, trieb mit vielen hundert anderen Menschen durch die schlechten und auch durch die guten Wohnviertel, vorbei am Rathaus, grölend, schimpfend, Flüche herausschreiend, manche den Herrgott um Hilfe an bittend. Das Blut der Massen brodelte, der Boden bebte unter dem Stampfen so vieler. Die Gier zum Töten wurde schmackhaft, die trockene Luft tat ihren Teil, der Durst nach warmen Blut, nach zuckenden Gliedern, nach Innereien wurde wach, erfasste jeden, heizte die Massen an, ließ sie und mit ihr Ralf schneller treiben, dem dunklen Qualm entgegen, dem Geruch von Feuer, verbranntem Holz, dem Scheiterhaufen auf dem Platz vor der Kirche entgegen.

Schnell fand sich auch Ralf dort ein, stand gebannt vor den meterhohen Flammen, sah die Helfer der Exekution Holz nachwerfen, griff selbst zum Holz und warf es auf die Kohlen, hörte die Priester die Formeln der Teufelsaustreibung sprechen, hörte die Offiziellen das Urteil sprechen, hatte errötete Wangen, von den Flammen aufgeheizte, feuchte Hände, einen vom Schweiß verschwemmten Rücken, schrie in der Lust des Tötens, schrie in Ekstase, mehr als sie je aus ihm herauskam, brach die Gewalt seines Wesens die Schranken der Mittelmäßigkeit, flutete über die Felder des eintönigen Seins in die Gräben der Lust, umschlang jede Wurzel kleinbürgerlicher Herkunft - erwürgte, weil man nicht durfte, was man tief in sich doch wollte, brennendes Fleisch atmen, noch heißes Blut den Wunden entnehmen, sich betrinken weiter hinein in den Rausch, Hexen, Hexen, Hexen mit rotem Haar, Hexen mit langen Beinen, die überall den Anstand verdarben, im Feuer stehend, nicht schreien könnend vor Schrecken, auf dem Weg in Satans Burgen, Hexen wie die seine es war, die er nun am Haar gepackt in die höllenden Feuerfunken stürzte.

(aus dem Buch "Denkspiele")

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