Mittwoch, 24. August 2011

Der Menschenfresser

Alexander kam als Menschenfresser zur Welt. Diese Tatsache wäre ungewöhnlich gewesen, hätte einer der Anwesenden diesen Umstand bemerkt oder wäre das Neugeborene mit darauf hinweisenden körperlichen Merkmalen zur Welt gekommen. Dem jedoch war nicht so. Ob die Ärzte, Ammen oder später die Schwestern, keinem fiel diese Eigenart auf, niemand wusste davon, wie hätte man auch, gibt sich ein Kannibale zumeist erst durch eben jenen Akt zur Kenntnis, der ihn für die Umwelt zum Kannibalen werden lässt, niemand wusste also davon, ausser Alexanders Mutter und ihr Ehemann. Mutter und Vater waren auch Kannibalen, Mutter wurde zur Kannibalin, Vater war schon immer einer, schon immer will sagen, so wie sein Vater und dessen Vater, so wie die Väter all der Generationen dieses Stammes, von denen bekannt war, dass es sie gegeben hat, von denen nicht bekannt wurde, wie sie zu dieser Form des menschlichen Seins mutieren konnten, mit ungewöhnlicher Gradlinigkeit, ganz entgegen der evolutionären Entwicklung der Menschen im Allgemeinen und trotz der Verehelichung mit Nichtkannibalen, wie es z.B. die Mutter von Alexander einmal gewesen ist, vererbte sich dieses Phänomen und das immer auf die männlichen Nachfahren; Mutter und Vater hatten gemeinsam drei Kinder, alle drei waren männlich.

Alexander war der jüngste der drei Brüder und erfuhr somit auch die meiste Aufmerksamkeit der Eltern. Schon seine zwei älteren Brüder trugen das für diese Familie so typische, von anderen aber immer erst zu erkennende Merkmal, wenn es denn zu spät war, doch waren ihre Fähigkeiten, mit denen sie den Vorstellungen des Vaters hätten entsprechen können, nicht besonders ausgeprägt. Sie unterschieden sich nicht von anderen Kindern, außer natürlich durch den gelebten Kannibalismus, wiesen jedoch keine besonderen Talente oder Begabungen aus, waren nicht intelligenter als andere, nicht schöner oder größer, eigentlich in keinem Fall so, wie sie hätten sein müssen, um dem Anspruch des Vaters zu entsprechen, der naturgemäß seine Erbanlagen und insbesondere seine Eigenschaften, seine Vorstellungen vom Sein oder Nichtsein auf die Erben übertragen wollte, bei Alexander zu guter Letzt übertragen hatte.

Anfänglich gab es Probleme mit dem Kind. Vater sah sich nicht in der Lage, die notwendige Liebe, ob körperlich oder geistig, dem Heranwachsenden entgegenzubringen, obwohl ihm natürlich hätte klar sein müssen, dass jeder Mensch einer gewissen väterlichen Aufmerksamkeit bedarf, um in der Ausgeglichenheit der elterlichen Wärme zum Erwachsenen heranzureifen, der das Leben, wie auch immer es sich ihm stellte, meistert, lebt, überlebt. Für Alexanders Vater gab es jedoch nur ein Ziel in der Erziehung des Sohnes, Alexander hatte jene Bürde mit Disziplin zu tragen, die schon er, die schon all die Väter vor ihm mit Disziplin getragen hatten, er hatte sein Schicksal anzunehmen und eine Kopie des Originals zu sein, eines Standbildes, das hoch über den Köpfen der Familie hängend, ähnlich einem Damokles-Schwert, darüber wachte, dass die Dinge so blieben, wie sie waren, hatten sie sich doch bewährt, erwiesen sie sich doch so als gut.

Alle in der Familie, alle außer natürlich Vater, der das ihn Betreffende als gegeben hinnahm und gelernt hatte, nicht infrage zu stellen, hatten Schwierigkeiten mit der die Familie behaftenden Eigenart. Gerade für Mutter war die an die Liebe zu Vater gefesselte Bedingung des Miteinanders kaum zu ertragen und natürlich auch völlig unverständlich, sie, aus einfachen Verhältnissen stammend, eigentlich einmal eine gottesfürchtige Frau, eine, die das Leben als Leben nahm, die den Tag mit dem Morgen begann und den Abend zum Schlafen nutzte, hatte nicht die nötige Bildung und Tiefe, um nachzuvollziehen, um zu verstehen und aus Verständnis anzunehmen oder aus eben demselben Verständnis mit der Stärke ihres Charakters abzulehnen. Das war Vater bekannt, denn so wie er seine kannibalische Eigenart ererbte, ererbte er auch die Kriterien, nach denen er sich zu richten hatte, um sein Leben im Sinne der Tradition, der ungewöhnlichen, ja vielleicht sogar der tragischen Tradition, fortzuführen, denn für die Erfüllung eben dieser war das Leben selbst eigentlich weniger bedeutend, als der einzig mögliche und vorgezeichnete Weg durch das Leben Bedeutung hatte. War die Mutter eine besonders fröhliche Person, war es der Vater nicht. War der Vater, was in der Natur der Sache lag, ganz besonders zielstrebig, hatte die Mutter diese Eigenschaft nicht. Dennoch waren die Schwierigkeiten, die aus dieser Diskrepanz erwuchsen, weniger bedeutsam als die Möglichkeiten, die sich aus dieser charakterlichen Zusammengesetztheit der Frau und späteren Mutter ergaben.

Alexanders Mutter war ein leichtes Opfer, ein Opfer, das nicht verstehen musste, aber selbst das Unverstandene, vielleicht aber auch gerade das Unverstandene übernahm, das langsam und völlig unkompliziert an die kulinarische Eigenart des Vaters gewöhnt werden konnte, einhergehend mit dem Wachstum ihrer Liebe zum Vater, die eigentlich keine Liebe war, sondern eher als eine Gewöhnung und spätere Übereignung des eigenen Wesens darzustellen wäre. Ihre Naivität und Bodenständigkeit boten den Nährboden, den es bedarf, will man aus etwas Einfachem etwas Besonderes machen, will man das Bestehende, ein ohnehin nur sehr schwer mögliches Unterfangen, ändern, mehr noch gestalten, so formen, dass es einem selbst entspricht, dass es zu einem Teil des eigenen Seins entartet, zu einen Teil, den der eigene Körper nicht abstößt, den er nicht als Fremdes erkennen will, der nichts Fremdes ist. Dementsprechend wurde Mutter zum Teil des Vaters. Mutter übergab sich täglich nach dem gemeinsamen Mahl, anfänglich hatte sie dabei Schmerzen, körperliche und geistige, doch mit der Zeit schien das Sichübergeben zu einem festen Bestandteil des gemeinsamen Essens zu werden, die Schmerzen ließen nach, die Qualen auch. Mutter übergab alles, was ihr Magen aufnahm, zuletzt übergab sie sich, aus dem Äußeren wurde das Innen, ihre Innereien kehrten sich nach außen, Mutter wurde Innerei, zur Innerei des Vaters, nachdem dieser sie verschlungen hatte. Nun wurde es Zeit für die Kinder, denn dem Vater war klar, dass sein Überleben nur mit dem Tod anderer zu sichern war, mit dem Tod der Mutter ebenso wie mit dem Tod des richtig geborenen Sohnes, denn wie sich später herausstellte, waren die ersten zwei die falschen, mit ihrer Geburt starben sie jenen Tod, den der Vater erdachte, den zu verhindernden eigenen Tod nämlich, vorweggenommen durch die Söhne, eigentlich aber genau genommen gegen die Söhne, unbedingt jedoch für sich.

Mit der Geburt des Jüngsten jedoch gab Alexanders Mutter ihrem Sohn jene Fröhlichkeit mit, die nun mit ihrem Verschlingen durch den Vater, mit ihrem zukünftigen Sein als Teil des Ganzen genauso eine des Ganzen wurde, eine Keimzelle, die der Mutter ebenso wenig bewusst war oder werden konnte, wie sie dem Sohn jemals bewusst wurde, der zwar einen Teil der Mutter lebte, diesen aber tatsächlich nicht erlebte, bedingt doch die Fröhlichkeit nicht Dasessieschützenwollen, bedingt die gelebte Fröhlichkeit kein Denken darüber, nur ein leichtes Streifen, kein Niedergehen, nur ein oberflächliches Berühren, kein Festhalten. Alexander hielt an der Fröhlichkeit fest, er vertrat sie mit Wut und Jähzorn. Mit den Jahren gewöhnte sich der Junge an seine ihm vom Vater und den Vätern zuvor zugedachte Rolle, die er tatsächlich aber nicht erfasste, die dennoch zukünftig sein Leben mehr und mehr beeinflusste, bedingt durch die Methodik des Vaters, sein Leben bestimmte, gestaltete und seinen Kannibalismus förderte. Wenn auch mit Schwierigkeiten, so würgte er doch zuletzt die ihm zugedachten Speisen herunter und selbst die Übelkeitsgefühle, die physischen und psychischen Schmerzen, wurden durch die von Alexander falsch verstandene und dementsprechend ebenso falsch gelebte Fröhlichkeit unterdrückt, eigentlich aber heruntergewürgt.

Eines Tages aber begann, dies bedingt durch den Fehler, dass der Sohn Erbe beider Elternteile war, eine Verwandlung in Alexander. Jedes mal nach dem gemeinsamen Essen, stand der Junge auf, verließ das Esszimmer und ging ins Bad, wo er die schmerzvoll herunter gewürgten Mahlzeiten übergab und aus den nunmehr vor ihm liegenden Teilen neue Menschen formte. Anfänglich zwar unbeholfen, doch mit Hilfe von gegen den Willen seines Vaters durchgesetzten Kursen an einer Akademie für Bildhauerei, erhielten seine Schöpfungen Ausdruck, seine Arbeiten bekamen Dimensionen, die mit den immer größer werdenden inneren Schmerzen in gleicher Geschwindigkeit und mit der gleichen Intensität heranwuchsen und klar werden ließen, dass das Töten ein Gebären mit sich brachte und dass für Alexander das Verschlingen und das Gestalten notwendig waren, um jenes Gleichgewicht zu halten, das nötig war, um ihn so lange zu erhalten, bis er die Form angenommen hatte, die für ihn vorher gedacht war und die zu seinem Lebensziel werden sollte. Die sich langsam einfindende Unterstützung des Vaters für den ursprünglich so nicht gewollten Werdegang seines Sohnes ging einher mit der Tatsache, dass die von Alexander geformten Wesen jedes Mal wieder das Gesicht des Vaters trugen und somit sein Wohlwollen fanden, das Wohlwollen eines Mannes, dessen Spiegelbild ihm sein Ziel schien, als hätte er sich neu erschaffen, als hätte er durch den Sohn sich immer neu erschaffen und so den Fortbestand seines Wesens gesichert.

Alexander wohnte nun schon lange nicht mehr im gemeinsamen Haushalt mit dem Vater, und nur sehr selten wurden durch den Vater hindurch Erinnerungen an die Mutter wach, an jene unbeschwerte Fröhlichkeit, die wie ein Bindeglied zwischen ihm und dem Vater schien, die ihn bei allen Ablenkungen, bei allem Vernichten und Gestalten immer wieder an sein wirkliches Ziel erinnerte und deren Kraft mit den Jahren so sehr anschwoll, dass er sich diesem Sog nicht mehr entziehen konnte, unterbewusst wehrte, bewusst fügte. Wann immer Alexander die menschlichen Teile erwürgte und zu neuen Formen zusammenstellte, bedurfte es eines Teils seines Seins, um sich selbst die Nahrung zuzuführen, die er von dem Erbrochenen seit langem nicht mehr bekam und die nötig war, um sich am Leben zu erhalten. Mit der Zeit gingen einige Gliedmaßen verloren. Der zwischenzeitlich erwachsene Mann hatte keine Zehen, ihm fehlten Teile seiner Waden, der linken Hand drei Finger, den Armen fehlte die Muskulatur, nach und nach verschwand erst das eine, dann das andere Ohr, Alexander hatte keine Haare mehr, ihm fehlten eines Tages die Beine, die Hüften, und um so mehr er die fremden Teile in sich erbrach und damit neu gebar, desto wüster vergriff er sich an seinem Rumpf, an seinen Armen und zuletzt noch an seinem Hals. Langsam veränderte sich sein Kopf. Aus dem hübschen Gesicht verloren sich schon bald die Augen, immer stärker entwickelten sich seine Kiefer, der Kopf des Menschenfressers verwandelte sich in einen großen Mund, verwandelte sich in eine vernichtende und mit starken Zähnen ausgestattete Fressmaschine, die alles, was von Alexanders ursprünglichem Körper noch übrig blieb, verschlang, zuletzt selbst noch die Lippen und sich. Mit dem Zerfall seines Seins verlor sich gleichzeitig die Wirklichkeit seiner Schöpfungen, die Skulpturen zerfielen, die Körper lösten sich auf, und mit den Körpern verschwanden die Gesichter, hörte das Gesicht des Vaters auf zu existieren. Die unerträglichen Schmerzen des Vater schienen jene Quelle zu sein, die Alexander seinen Lebensweg finden ließen, das gesetzte Ziel erreichen ließen, in der Erbfolge einer Familie von Menschenfressern.

(aus dem Buch "Denkspiele")