Montag, 18. Juli 2011

Die Späherin

Zuerst konnte Martin sich nicht an den Gedanken gewöhnen, denn offen gestanden war es nicht weit verbreitet, sich eine Ameise als Haustier zu halten, eine Ägyptische Wanderameise, wie sie genau genommen hieß, und er hatte noch von keinem gehört, der eine solche Ameise hielt, oder jemandem, der dieses Interesse mit Martin teilte: Ein Interesse, das gerade erst bei ihm geweckt wurde, von seiner Mutter. Martin behielt also diese Form der Tierhaltung für sich, auch wenn sie eigentlich mit der Haltung eines Hundes oder einer Katze zu vergleichen gewesen wäre, nur dass eine solche Ameise bedeutend weniger Auslauf benötigte, viel weniger Nahrung, keine Pflege und sonstige Attribute, die die Natur von einem forderte, wenn man sie oder einen Teil ihrer, weil ein Naturfreund, einsperren wollte, in die eigene so beschränkte Welt. Martins Mutter konnte es noch immer nicht glauben, dass es ihr wirklich gelungen war, also ihr und Vater, Martin von dem Halten einer Ameise zu überzeugen, und den Wunsch fallen zu lassen, ein Kaninchen aufzuziehen. Gerade diese Kaninchen, die natürlich kleine possierliche Tierchen waren, vermehrten sich leider wie die Ratten, meinte Martins Mutter bei Tisch, und ebenso wie die Ratten würden sie alles Erdenkliche an- und aufknabbern, womit ihrem Treiben noch lange kein Ende gesetzt würde, meinte Martins Mutter, nachdem sie die Vorsuppe ausgeschenkt hatte, denn, so fuhr sie fort, Kaninchen und gerade Kaninchen hätten nämlich eine Notdurft, wie alle anderen Tiere auch, aber eben viel häufiger, und eben diese Notdurft würden sie nicht, wie eine Katze, in einem Katzenklo besorgen, in diesem Falle in einem Kaninchenklo, spezifizierte die Mutter, auch nicht wie ein Hund einfach und ohne weitere Komplikationen auf der Straße, sondern dort, wo sie sich gerade aufhielten. Würde Martin eines halten, dann in der gemeinsamen Wohnung. Wer würde all die Unsauberkeiten einsammeln, sie überhaupt entdecken, da sie doch überall liegen könnten? Wer würde den Gestank aushalten, der zwangsläufig in der gemeinsamen Wohnungsluft läge? Zuletzt wohl niemand, endete Martins Mutter ihren Vortrag gleichzeitig mit dem Verspeisen der Vorsuppe. Da Martins Vater, der ohnehin nicht viel sagte, so gut wie nie zu irgend einem Thema Stellung bezog, diese dauernden Diskussionen über die Haltung eines Haustieres leid war, meinte er - und das mehr im Spaß - Martin könne ja eine Ameise halten, da würden die Probleme alle nicht auftauchen. Dieser plötzliche, fast schon verbale Ausfall von Martins Vater wurde von Mutter, mehr noch aber von Martin, sehr ernst genommen, denn wenn Vater schon mal etwas sagte, dann nur weil es unabdinglich, manchmal rettend, allemal aber sehr wichtig war: Ansonsten würde er es nicht aussprechen, würde schweigen, ganz seiner Gewohnheit entsprechend, wie er schon immer geschwiegen hatte, seitdem Martin denken konnte, geschwiegen im Gegensatz zur Mutter. Und als dann die Hauptmahlzeit serviert und verspeist wurde, Mutter das Kompott in die Schalen füllte, stand es endlich fest, Vaters Idee als eine ernstzunehmende zu nehmen, und eine Ameise, eine Ägyptische Wanderameise, die sollte es dann schon sein, als Haustier zu halten. Und Martin stimmte diesem Vorschlag zu, mit dem er zuerst nicht recht vertraut wurde, für den sich aber sein ansonsten so schweigsamer Vater sehr positiv einzusetzen schien und sogar das Wort ergriff. Vater erklärte sich bereit, mit Martin auf die Suche zu gehen, und Mutter stellte ein Glas aus ihrer Einweckglassammlung zur Verfügung, damit die Ägyptische Wanderameise einen ganz eigenen Lebensraum bekäme, richtete diesen mit Moos und kleinen Sträuchern ein, legte Erde und Sand hinzu und sogar einen kleinen Teich an, indem sie einen ausgedienten Fingerhut in das Moos drückte und mit Wasser füllte. Am späten Nachmittag war dann endlich eine Ameise gefunden, zumindest doch eine, die derjenigen Abbildung einer solchen ähnelte, die im Lexikon der Tierwelt als eine Ägyptische Wanderameise dargestellt wurde. Das neueste Lexikon war es zwar nicht mehr, aber es war auch schwer vorstellbar, dass sich das Aussehen einer Ägyptischen Wanderameise von Auflage zu Auflage änderte. Das alles geschah an einem Samstag, einem Samstag wie jeder andere, wäre da nicht die Diskussion über die Haustierhaltung, wäre da nicht die seltene verbale Äußerung des Vaters, die Suche nach einer Ameise und das Finden dieser bis hin zu dem handgreiflichen Engagement der Mutter und ihrem plötzlichen Einfallsreichtum bei der Gestaltung des Lebensraumes der ausgewählten Wanderameise gewesen. Eine so breite, eine so einhellige Verständigung hatte es nur selten in Martins Familie gegeben, und so brachte dieser Samstag auch neue Aspekte des familiären Zusammenlebens, Zusammenhalt und sogar etwas so seltenes wie Intervention vom Vater. Dies alles ging lange Zeit gut. Martin berichtete allmorgendlich beim Frühstück über seine Fortschritte beim professionellen Halten einer Wanderameise, und Mutter und Vater gaben Ratschläge und erfreuten sich an der Begeisterungsfähigkeit ihres Sohnes, wobei bei Mutter noch die Freude mitspielte, ohne viele böse Worte wieder einmal ihren Willen durchgesetzt zu haben, wie auch schon immer bei Vater, weswegen dieser auch so ausführlich schwieg. Eines Morgens aber nun erschien Martin nicht zum Frühstück, war zumindest unpünktlich, was zwar nichts Ungewöhnliches war, nämlich früher, doch nun, seit dem Halten einer Ameise in einem Glas aus Mutters Einweckgläsersammlung, etwas Ungewöhnliches barg, denn es hatte sich seither eingebürgert, dass Martin allmorgendlich über die Entwicklung seiner Ameisenhaltung Auskunft gab, weswegen er immer sehr pünktlich an dieser gemeinsamen Exkursion zur Erhaltung des Leibes teilnahm. Wobei hier gesagt werden muss, dass sich die anfangs nur mäßige Begeisterung für diese Form der Haustierhaltung bei Martin steigerte und vorerst kein Ende in der Steigerungsmöglichkeit abzusehen war, was Mutter im übrigen nicht störte, solange sich dieses Interesse nicht auf Kaninchen ausweitete. Zuerst rief sie, mit ihrem doch recht starken Organ, nicht durchdringend aber laut und deutlich nach Martin, versuchte ein abwartendes Schweigen, wiederholte ihren Ruf in gleicher Form, schwieg erneut und wurde in ihrem dritten Ruf bestimmter, auffordernder, etwas lauter auch, doch folgte Martin dieser fast schon drohenden Frühstückseinladung nicht, weswegen sie aufstand und zu seinem Zimmer ging. Wohl aus einem Reflex heraus rief sie noch einmal den Namen des Jungen, öffnete im selben Augenblick die Tür und war, bei dem Anblick dessen, was sie sah, seit vielen langen Jahren - denn Vater empfand die Jahre mit ihr als besonders lang, da für ihn auch besonders schweigsam - starr und stumm. Martin war nicht in seinem Zimmer, dafür aber befanden sich darin Millionen von Ägyptischen Wanderameisen.

(aus dem Buch "Denkspiele")