Samstag, 3. September 2011

Die Kugel

Immer in der Nacht, in fast jeder Nacht, so erzählte Patrick während der gemeinsamen sonntäglichen Frühstücke, glaube ich aufzuwachen und fühle mich ganz besonders entspannt. Wenn ich meine Augen öffne, sehe ich in den schwarzen Weltraum und umso genauer ich hinschaue, desto deutlicher werden mir die kleinen, glitzernden Sterne, deren Helligkeit sich immer weiter steigert, solange, bis ich geblendet die Augen schließen will. Dann aber sehe ich alles nur noch schwarz. Die Sterne sind fort, jegliche Helligkeit ist fort und das Schwarze formt sich zu einer unglaublich großen Kugel, einer schwarzen Kugel, die mir tief im Bewusstsein mehrdimensional erscheint, obwohl ich sie mit den Augen nur eindimensional ausmachen kann. Umso näher die Kugel auf mich zukommt - und es scheint, als bewege sie sich dabei nicht - umso kleiner wird sie auch, und um sie herum scheint alles sehr hell, fast weiß. Dann, zum Ende des sich häufig wiederholenden Traumes, tritt die etwa wie mein Kopf große Kugel durch meine Stirn in mich ein, erfüllt mich mit Schwarz und fängt sachte an zu wachsen. In dem Augenblick, in dem ich zu bersten glaube, erwache ich, fühle mich frei, habe sogar das Gefühl, dass die Luft, die ich atme, eine ganz frische, besonders sauerstoffhaltige ist, und ich höre überall klassische Musik.

Patricks Vater, dem bekannt war, dass sein Sohn viel las, erklärte den Traum eben mit dieser Tatsache, während Mutter, nachdem Patrick ihr des Öfteren von diesem Traum erzählte, etwas bange um den psychischen Zustand ihres Sohnes wurde, denn sie war ohnehin schon immer der Ansicht, dass Patrick sich zuviel mit dem Lernen, Lesen und Schreiben beschäftigte, anstatt, wie andere Jugendliche in seinem Alter auch, sich die Zeit mit belangloseren Dingen, wie zum Beispiel Tanzen und Tennis die Zeit vertrieb. So entschloss sie sich eines Tages, Patrick beim Hausarzt anzumelden, einem Allgemein-Mediziner, der aber ebenso wie sie und Vater zu dem Ergebnis kam, dass der Sohn mehr Ablenkungen benötige, Sport treiben solle und dann sicher, ohne nachts zu träumen, schlafen könne. So verschaffte Patrick sich also Ablenkung. Er ging zum Tanzen, ging abends mit einigen Freunden in die Kneipe, spielte Tennis und besuchte zweimal die Woche die Schwimmhalle. Dennoch träumte er weiter den Traum mit der schwarzen Kugel.

Die Aufklärung dieser Träume sollte, so glaubten Vater und Mutter, eine Analyse durch einen Psychologen bringen, der der Familie durch den Hausarzt empfohlen wurde. Dieser meinte dann nach vielen Sitzungen und noch mehr Fragen, dass Patrick sich in eine Erlebniswelt hineinsteigere, von der er zuletzt auch noch träumen würde und versucht, durch diesen nun immer wieder berichteten selbst hervorgerufenen Traum, mehr Aufmerksamkeit durch die Familie zu erlangen. So gaben sich alle mit dieser Erklärung zufrieden und nahmen Patricks Erzählungen und Träume kaum noch ernst, bestanden häufig sogar darauf, dass er sie damit verschone. Das alles spielte sich über einen Zeitraum von fast zwei Jahren ab. Um Patricks Träumereien wurde es stiller und somit gerieten sie in Vergessenheit.

Vater hatte einen ruhigen und auch tiefen Schlaf. Einmal aber wurde er durch einen lauten Knall, als wäre etwas explodiert, aus eben diesem tiefen und ruhigen Schlaf gerissen. Dieser Knall schien - auch Mutter, die er aus dem Schlaf riss, war der Meinung - aus dem Zimmer Patricks zu kommen. Ohne weitere Umstände zu bereiten, eilten sie aus dem Schlafzimmer, über den Flur, an Patricks Tür, klopften zuerst, riefen seinen Namen, öffneten schließlich die Tür und Vater schaltete die Deckenbeleuchtung an. Ihre Blicke eilten wie von selbst durch Patricks Zimmer. Auf dem Schreibtisch lag eines von Patricks Ohren. Links neben dem Papierkorb, der am Schreibtisch stand, entdeckten sie Patricks Unterkiefer, zumindest einen Teil davon. Auf der Fensterbank lagen Patricks Kopfhaare, auf dem Sofa das zweite Ohr und daneben eines seiner Augen, dessen Flüssigkeit langsam in den Sofabezug einsickerte. Hie und da im Zimmer verstreut fanden sich Schädel- und Knochenteile, Hautfetzen, auf dem Schachbrett ein Augenlid, es sah zumindest so aus, gleich neben der Tür fanden sich zwei Zähne, wieder welche vor dem Kleiderschrank und Patricks Zunge war völlig zerrissen, zuckte noch einige Male, bis sie dann bewegungslos auf einem Buch im Bücherregal liegen blieb. Patricks Rumpf war bis zum Halsansatz völlig erhalten und lag, wie ein still Schlafender auf dem Bett, teilweise zugedeckt aber vollständig. Nirgendwo war Blut zu sehen. Die Deckenleuchte warf ein fast weißes Licht. Von der Finsternis der Nacht war nichts zu sehen und obwohl Patricks Mutter und sein Vater wie erstarrt in der Tür standen, hatten sie das Gefühl, zum ersten Mal seit langem eine besonders sauerstoffhaltige, frische Luft zu atmen und klassische Musik zu hören, als würde ein Leben neu entstehen.

(aus dem Band "Denkspiele")