Mittwoch, 3. August 2011

Der Gärtner

Gleich hinter den sechs Sargträgern gingen die Eltern, Väter und Mütter, verschiedener Zeiten, verschiedener Welten, Frauen mit hängenden Häuten in alten Gesichtern und leeren Blicken in müden Augen, Frauen, penibel, den Auftritt genießend, maßgeschneidert für diesen Tag, erhobenen Hauptes, die Falten verschminkt, das Alter verdrängend, Frauen, die alle einen Sohn gebaren, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Welten und nun zum ersten Mal gemeinsam sind, beim Tragen des Toten in seine Gruft, manche mit Tränen in den Augen, andere kämpfend mit diesen, wieder andere sie nicht befehligen könnend, alle aber geschwärzt in Trauer, vielseitiger, die ein Leben lang begleitend nun auch noch in die Grube geht. Und all der Weiber Ehemänner, manch einer mit eingefallenen Wangen, vom Dunkel in den Kopf gezerrten Augen, ehemals das Glück suchend, heute sich zufrieden gebend mit dem Leid, das sich nicht vermehrt, mit der Erkenntnis, schon in sich nichts mehr zu finden, manch einer noch jung im Alter, gigoloartig den Körper schwingend, die Lippen feucht haltend und den Mund halb offen, überall hinblickend, schnell und eifrig charmant gleichzeitig an jedem Ort zu sein, manch einer wieder mit hartem Blicke und einem starken Kinn, das alle Wege findet, mit Händen, die das, was sie greifen, niemals lassen, bis zum Tode nicht und auch nicht darüber hinaus und eines doch verband alle diese - nun Väter des Toten dort zu sein, dessen Leib der Verwesung nicht entrinnen würde, nicht den Tieren im Erdenreich, wenn erst einmal der Väter Hände Erde auf sein Haupt, auf seine Glieder gestreut hatten - Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub.

Gleich hinter den Sargträgern, den Müttern und Vätern, gingen die Brüder und Schwestern, die Onkels und Tanten, Cousinen und Cousins, die einen trüben Blickes, andere Blicke verstohlend schauend, gelangweilt, suchend, ausweichend, ermüdet, mit freundlichem Gesicht und mit unfreundlichem, mit so sehr schlecht sitzender Garderobe und auch mit geschmackloser, mit guten und teuren Stoffen, schwarze, mit nicht so guten schwarzen, Schwarz läßt sich schließlich nicht kaufen, Schwarz hat keinen Preis und keine Qualität, das wussten auch die Cousins und Cousinen, ebenso wie die ewig den Tratsch treibenden Tanten, an den Häusern ihn entlang treibend, weg von der Hauptstraße in die Gasse ihn treibend, weg aus der Gasse in das Tor, die Treppe hinauf ihn treibend un in die Kammern, von einer Kammer in die nächste, hinaus auf den Balkon, von einem zum anderen huschend, nicht ängstlich zu fallen, Tratsch kennt kein Sterben, fürchtet nie den Fall und mit ihm auch nicht den Tod, hintreibend bis zum Friedhof, an jede Gruft, vorbei an allen Steinen, mit vorgehaltener Hand, mit versucht vorgehaltener und sogar mit unbeteiligten Händen, die nur hängend auf Befehle wartend vergessen wurden im Trieb des Tratsches, vergessen wurden, anstatt aufgefordert, das Geheimnis zu schützen, obwohl nur ungeschützt es doch überlebt - übrigens jeden.

Wieviele Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde und Bekannte schlossen sich an dem Trauerzug, die guten Freunde ganz in dunkelblauen Stoffen, weil sie doch wussten, dass diese Farbe immer schon die seine war, getucht, der eine mit gutem Gewissen und wenig Trauer, der andere mit einem schlechten, belasteten Gewissen, aber dafür noch weniger Trauer, alles Freunde, die das Wort, was sie umschrieb in seiner Welt, streckten, gesperrt sprachen, jede Silbe überbetonend, jedem Buchstaben den gleichen zweimal dazu gefügt, um den Klang des einzelnen zu verlängern, dem gesamten Wort mehr Achtung zukommen zu lassen, wenn sie seines Sinnes bedurften, mühevoll waren sie kämpfend um einen Ausdruck, der manchmal mehr als Herkunft galt, aber ebenso mühevoll suchten sie die Bedeutung dieses Wortes, wenn an sie er herangetreten, wenn an sie eine Bitte ging, eine kleine, ganz unbedeutende, suchten sie in Lexika und fanden nicht, fanden nicht in der Erinnerung und auch nicht in den Windungen ihres Hirns, fanden das Wort Freund zuletzt nicht einmal in ihrem Herzen, das jämmerlich klein wurde in solchen Augenblicken, die - dem Himmel sei dank - nur selten sie belästigten.

Und natürlich waren all die Lehrer nicht zu vergessen, die würdevoll geschritten kamen, die niemals da, wo es ihrer bedurfte und auch dort niemals, wo sie fehl am Platze, mit ihrer Abwesenheit schreckten, mit lang gezogenen Gesichtern manche, mit Denkerstirn und andere mit einer Stirn, die gar den Denkern trotzte und viele waren Brillen tragend, tief auf der Nase sitzend, zu tief, um noch hindurchzuschauen, tief genug aber, um darüber hinweg zu sehen, mit hochgezogenen Augenbrauen und die hohen Stirnen, auch die nicht so hohen warfen Falten, die Wichtigkeit vermittelnd, Respekt einflößend waren, doch alles Lehrer, die immer nur im Recht gestanden, denn da, wo sie standen, war mit ihnen schlicht das Recht, weil nur mit ihnen eben auch immer all das Wissen war, war, wo sie standen, auch immer das Recht, was häufig schon gepeinigt werden musste, damit es nun von ihnen anerkannt überhaupt bestehen konnte, Lehrer, die alles abnorm empfanden, wenn es ihnen nicht ähnlich geraten oder gar missraten war, nachdenklich, schweigend, trauernd gingen sie, gebildete Trauer im Zuge.

So viele Menschen waren nun da, Menschen aus nur einem Leben, sich zwingend in die sehr kleinen Lücken, die die Buchstaben dieses Wortes ihnen ließen, mit Rosen roten und weißen, mit Orchideen sogar, Anteilnahme bekundend, im Gleichschritt viele, viele aber auch in kleinen, schneller aufeinander folgenden Schritten, manche in großen, wenigen, sehr bedächtigen Schritten, einige deren Schritte untergingen inmitten so vieler anderer, mit den Händen in den Taschen, vergraben in den Hosentaschen, Rocktaschen, manche mit geballter Faust, mit ineinander vergriffenen Händen, mit miteinander ringenden Händen, alle doch irgend etwas haltend, alle etwas nicht hergeben wollend, alle fröhlich der Gewißheit wegen, aber auch ängstlich vor dem Verlust. Und schaute man hin, ganz genau, was zum Teufel sie in den Händen hielten, die da zum Beispiel, die kleine da mit dem blonden Haaren, dem hochgesteckten, zu einem Dutt hochgesteckten, der ihrer Jugend die Würde der Alten verleihen sollte, er tat es nicht überzeugend, dann sah man es, was zwischen ihren Fingern das Tageslicht zu erblicken suchte, Luft zu erhaschen, Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die, so wie sie war, keine mehr war, eine Zärtlichkeit, die einmal sacht über fremde Körper zog, die nur erahnend Leben war, wenn auch nur Momente, um weiter wandernd auch den nächsten Körper noch zu betören, von ihr aber mit dem Netz der Gier gefangen, in die Welt des Habens eingebunden, eingepresst, koste es ihr Leben, sollte es ihre Vernichtung sein - und sie war es.

Und vorn der Herr mit rotem Seidentuch, das einmal frei die Lust am Kämpfen war, für nur den Kampf, den jeder kämpft im Leben, entweder mit der Wahrheit oder gegen sie, und er konnte es sich leisten, so wollte er glauben, das höchste Gut mit Geld zu kaufen, die Freiheit, frei zu sein vom Menschen, der ewig für ein Ideal gelebt und nun von ihm zu Grabe getragen, mit dem gebändigten Kampf in rot als Tuch, doch nicht mit dem wirklich wahren. Der Schöne dort mit den zarten Händen, er glaubte das Wissen in seinem Wesen, Herr über Tod und auch über Leben, denn wer gemalt von ihm den Rahmen verließ, der Leinwand seinen Rücken kehrte, der entzog sich auch dem ewigen Sein, dem zur Statue erhobenem Leben, wenn auch hoch gehangen und von allen bewundert, doch leblos starr in der Maler Händen.

So hatten viele, ob mit Amt und manche auch mit Würden oder einfach nur mit Geld und ebenso welche mit schönen Gesichtern, manche mit der Reife und andere mit der Jugend viel investiert in all den Jahren, ihr Haben geboten im Tausch für ein Sein, was durch ihre Mühen so hoch gehoben, dass kein Mann und keine Frau es je berührten in den Tiefen seines Gusses, was allein durch ihr Begehren einen Preis erhielt, der wirklich schon kein Preis mehr war und wollten stürzen, was sie einst erhoben, was nicht zu stürzen ging, denn es war eines jeden Traum, der ewig an den Horizonten der Geister im Kopf der Menschen scheinbar stand und mit jedem Schritt zu ihm er zwei Schritte sich entfernte. So trugen viele einen Traum zu Grabe, der trotz der Tiefe dieser Gruft hoch oben stand in ihren Wesen, weit höher noch als ihre Gedanken, weit lebendiger als ihre Herzen, in neuen Leben wiederkehrend, von denen es so viele gab in jeder Zeit.

Doch dann war da noch einer, jemand, dem der Zug doch ebenso fremd gewesen, wie wohl der Tote, der zuerst ganz hinten angelangt sich mit der Zeit, nicht schnell doch wirklich stetig, Zehen spitzelnd durch die Schweigen erfüllten Reihen gemogelt, Reihe und Reihe, Glied und Glied näher an das Geschehen, fragenden Blickes, staunenden Mundes, Lippen vibrierend, ganz aufgeregt vor Gier, mehr zu erfahren, mehr noch als Schweigen, mehr noch als das Schweigen zuließ, denn er war schließlich ein Fremder, in dunklen Hosen, in dunklem Mantel, ohne dunklem Binder, ohne Trauer im Gesicht, keine falsche und auch keine nicht falsch wirkende, mit wieseligem Verhalten, fremd dem Zuge, fremd wohl auch dem Toten, der Zeit fremd, wie auch dem Orte, und so war es diese Fremde, die ihn ausspie, hinaus aus der großen Gruppe, weit hinaus aus schweigenden Mündern, weit weg von findenden Augen, noch weiter fort von verschlossenen Ohren, gar fort von Händen, die gern besaßen, weil sie beschäftigt mit dem Erhalt, hin an den Rand des Zuges, hin an den Rand der Gräberzeile, hin an den Rand des Geschehens, hin zu dem Gärtner, der einfach da, unter blauem Himmel, an einem warmen, nicht zu warmen Frühlingstage, in Gegenwart so vieler Menschen, in Gegenwart so vieler Blumen und auch in Gegenwart der zeitlosen Toten, einfach da, dem Geschehen trotzend, seine Aufgaben tat, doch nun vom Fremden angesprochen, wen man dort zu Grabe trage, nur eine Sekunde innehielt und sagte: "Mich, mein Freund, mich."

(aus dem Buch "Denkspiele")