Donnerstag, 24. Mai 2012

Lola

Es war eine recht laue Nacht. Für diese Jahreszeit etwas ungewöhnlich lau, denn gerade hier, in der Nähe der Küste, wehte sogar im Sommer ein oft scharfer Wind, ohne Rücksicht auf die Jahreszeit und schon gar nicht auf die Monate, in die das Jahr allgemeingültig eingeteilt wird, denn noch war die Technik nicht soweit fort­­geschritten, als dass sie die Winde beherrschen könnte, die schon immer ein Symbol der Freiheit, ein Symbol ungeheuerlicher Macht der Natur darstellten, dessen sich die Natur anscheinend auch bewusst war. Die Farbe des Wassers des Sees schimmerte, ohne die Tiefe zu haben, in auf eine solche hinweisendem Schwarz. Der See selbst fast bewegungslos, ohne jeglichen Wellenschlag, wie für ein Drehbuch bestellt, mys­­tisch, unheimlich, einsaugend, für ein Drehbuch, das sich mit Verschwinden und Gewalt, mit Angst und Verbrechen beschäftigt haben hätte können, bot den besten Hintergrund für ein dramatisches Ge­scheh­en, extra inszeniert, um zu unterhalten, spannend zu unterhalten, zum Fürchten. Dem war jedoch nicht so. 

Der Mond schien und beleuchtete die Tragik seines Seins, die sich darin manifestierte, dass er, ins Abseits gedrängt, in das Dunkel der Nacht gestellt, nur selten noch mit dem ursprünglich vorhandenem Interesse der Menschen an sich konfrontiert wurde, die ihn schon vor Jahrzehnten ihrem Wissen, ihrem Horizont einverleibten, nicht nur greifbar nahe durch Geräte an die Augen des Betrachters banden, sondern sogar mit eben diesen und auch anderen Geräten das bisschen, was sein karges Sein bot, eroberten. Nun war ihm auch die Konkurrenz zur Sonne genommen, die sich Tag und Nacht als seine Amme erweist, mehr sogar noch als seine Mutter, seit so vielen Jahren, in denen die Entstehung sich produziert und unterschiedlich im Einzelnen aber für ein gemeinschaftliches Ziel währt. Ob nun die Gräser oder Sträucher am Rande des Wassers, alle waren berührt von dem Schweigen, das sich vom Mond scheinbar in den See und von dort aus an die Ufer, hin bis zum grünen Leben fort geschlichen, alles Leben nicht erstarrend aber dennoch fesselnd, nicht das Erlebnis nahm, sondern Raum gewährte, um zu inhalieren, ein altes Leben erneut zu gebären, ihm Form zu geben, wieder eine neue, in der so häufig wechselnden Kunst der Körper. Da galt nun nichts mehr als wirklich ewig, sogar der hundert Jahre alte Baum war nur noch ein kleiner Teil im Kommen und Gehen und all die Jahre seines Erlebens nichts in den Weiten der formlosen Geistig­keit der Wesen.

Von allen wurde sie einfach Lola gerufen. Ihre Hände mit den langen zarten Fingern griffen in das Grün, sich festhaltend wirkend. Das dunkle Haar lag ruhig auf dem feuchten Moos, sie auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt, das andere gerade. Ihre helle Haut schim­­merte im Licht des Mondes, ihre Lippen grau, einige wie Tropfen wirkende schwarze Flecken zogen sich vom rechten Mundwinkel hin über die Wange, endeten beim oberen Teil des Knochens des Unter­kiefers, färbten einige Grashalme direkt unter dem Gesicht dunkel ein, die verharrend den Atem anhielten, in dieser lauen Nacht, in der kein Wind wehte, kein richtiger Wind, wie er für diese Gegend, in der Nähe der Küste üblich und bekannt gewesen wäre. Eine dünne Seidenbluse, hellblau, bedeckte ihren Ober­körper, eine weiße Hose aus Cord den unteren Teil. An den Füßen schwarze Sandaletten, keine Strümp­fe in dieser lauen Nacht, und ihre Fuß­nägel waren rosa lackiert. Um die Brustgegend, wohl auf der linken Körperseite, war die Bluse vollends dunkel eingefärbt, krustig, intensiv, unabgestimmt mit dem Blau des Stoffes, vielleicht nie so erwartet, schon gar nicht gewollt.

Einige erwachte Vögel waren zu hören. Ihr Flügel­schla­gen, manchmal auch ihre Rufe. Ansonsten schien die Natur dem Erleben zu harren, das jeder Au­genblick mit sich bringt.

Ein leichter Wind zog über den See und von dort aus an die Ufer, hin zum Schilf und auch über die Gräser, erfasste Lolas Haar, schenkte Sekunden der Beweg­ung, einen Augenblick neue Formen, zog über ihr Gesicht, über ihre offenen und starren, dunklen Au­gen, über die zu einem Schrei sich verformten Lippen, über ein Gesicht, das Qual zu durchleben schien, bewegte jedoch nichts, denn Lola war schon seit Stun­den tot.


(aus "Werktagebuch: Frühe Dichtung und Prosa")