Dienstag, 26. Juli 2011

Harald Katze

Schon als Kind galt Harald als besonders sensibel. Oft ist eine solche überdurchschnittliche Sensibilität auf nachhaltig wirkende Erlebnisse im Zuhause zurückzuführen. Haralds Mutter hatte sehr unter seinem leiblichen Vater und ihrem Ehemann zu leiden. Die in dieser Ehe vorgefallenen tragischen Erlebnisse führten, dies trotz einer bestimmt da gewesenen gefühlsmäßigen Abhängigkeit der Mutter vom Vater, oder vielleicht auch gerade deswegen, zu Zerwürfnissen, zur Scheidung und schließlich zur endgültigen Trennung und was so dazuzugehören pflegt, Hass und wieder Hass. Eine Trennung, unter der übrigens nicht nur sie, die Mutter, sondern auch Harald und seine Geschwister stark litten. Zum Teil bewusst, zum größeren Teil aber unbewusst. Harald fehlte gerade in den frühen Kinderjahren die Zuneigung, die Liebe, auch die körperliche des Vaters. Stattdessen wurde er eben, als jüngstes Kind und auch auffallend sensibles, von der Liebe der Mutter erdrückt, fast sogar, bestimmt sogar, erschlagen. Das Gefühl, am Kind alles gutzumachen, gutmachen zu müssen, nachzuholen, nachholen zu müssen, was sie selbst nicht oder nur unter großem persönlichen Leid erfahren hatte, steigerte sich bei der Mutter zuletzt in einem Schuldkomplex, z.B. den Kindern gegenüber, so dass die daraus resultierenden Handlungen viel weniger der Liebe zum Kind entsprangen oder diese symbolisierten, als die Befriedigung der eigenen Verluste, den Ausgleich der von ihr angenommenen, bei sich selbst vorhanden geglaubten Schuld.

Genau genommen war Harald immer ein Außenseiter. Oftmals, so erzählte er später, wurde er für seine Andersgeartetheit von Mitschülern sogar verprügelt. Schutz gewährte eigentlich nur die symbolische, in Wirklichkeit aber nicht vorhandene Stärke der Mutter, die in dieser familiären Beziehung doch tatsächlich nur die Selbstbefriedigung suchte, wenn auch niemals fand. Nicht einmal wirklich mit ihrem zweiten Mann, dessen Zuneigung sicherlich einiges wettmachte, doch die schweren psychischen Leiden nie hätte ausgleichen können. Sehr viele Menschen sind sicherlich nicht weniger sensibel, feingliedrig und inhaltlich tief wirkend wie Harald. Dennoch war die sinnige Wirkung eine ungewöhnliche, musste sie sich doch mit einem viel grobschlächtigen Menschen messen lassen. Harald war ein hübscher Junge. Er war auch immer ein besonders netter Junge, wenn auch nie besonders interessant, wenn auch nicht besonders intelligent oder gebildet, sicher auch nie besonders begabt, aber eben ganz besonders nett, zumindest so wirkend. Abgesehen davon hätte auch keine von jenen Eigenschaften, hätten sie vorhanden gewesen sein sollen, eine besondere Ausprägung oder Schulung erfahren, denn genauso genommen wuchs der Junge ausschließlich in der Obhut der Mutter und somit auch in der Obhut derer sie, wie später auch ihn, beeinflussenden Soziologie auf, die heute schlechtesten falls als Kleinbürgertum abgehandelt wird, obwohl sie gerade in diesen Breiten doch die meist verbreitete ist.

Harald erlernte auch niemals das Kämpfen. Wie sollte er auch. Wenn doch gekämpft wurde, so tat es seine Mutter, ob nun gegen Haralds Vater, die Lebensumstände, gegen ihre manischen Depressionen oder gegen die eigenen Kinder und sich selbst, ihre Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche, die unbefriedigten. Wobei der Kampf gegen die Kinder ihr als einer für die Kinder schien, ja ihr scheinen musste. So hat Harald, wie man nun seine Kindheit, seine Jugend und sein Heranwachsen auch immer bewerten wollte, nur verloren. Er verlor den Vater, dessen dringlich benötigte Zuneigung und Aufmerksamkeit, er verlor gegen die Klassenkameraden einen Wettkampf, den er nie herausgefordert hatte. Verlor gegen seine Mutter, deren Egoismus, deren Überlebenswillen alles um sie herum nur noch erschlug, eben auch Harald und seine Geschwister erschlug, verlor und litt, litt so, wie es die Mutter vorlebte, litt für die Mutter, litt zuletzt für und mit sich.

Immer wieder wünschte sich Harald einen Freund. Jemanden, mit dem er hätte spielen, sprechen und Zärtlichkeiten austauschen können. Harald wünschte sich einen Kater. Als hätte der Kater gewusst, worum es hier ging, fand er schnell Zutrauen, zeigte auch deutlich, dass er sich insbesondere zu ihm hingezogen fühlte. Mikesch schlief nachts in seinem Bett, kuschelte sich an seinen Körper, und sie gaben sich gegenseitig Wärme, Geborgenheit. Harald fühlte sich dem Kater überlegen, endlich einmal war nicht er der Schwächere, endlich einmal gab es jemanden, der seines Schutzes bedurfte, sogar seiner Aufmerksamkeit, einer Form der Aufmerksamkeit, wie er sie im Laufe seiner Kindheit nie kennen gelernt hatte.

Einmal, es muss an einem Samstag im Laufe des ausgehenden Winters gewesen sein, Mikesch miaute unaufhörlich, fühlte sich nachhaltig vernachlässigt, schlug Harald immer wieder und wieder mit der flachen Hand auf seinen Kater ein. Mikesch hatte Schmerzen. Harald litt dafür. Der Kater gab herzzerreißende Laute von sich und starrte Harald ängstlich an. Der jedoch schlug weiter auf den Kater ein und sprach fortwährend von Liebe, mit leiser Stimme, zärtlich und teilnahmsvoll. Er litt, sprach von Liebe, litt und tat auch sich selbst leid. Danach nahm er seinen Freund in den Arm und weinte. Mikesch hatte große Schmerzen, da aber Harald von Liebe und Zärtlichkeit sprach, begann er erst sachte und dann immer heftiger zu schnurren. Als der Kater dann aber noch Tage nach diesem Zwischenfall humpelte, ging er mit ihm zum Tierarzt.

Ein anderes Mal, Harald lag auf seinem Bett und döste, träumte von dem, wovon er eigentlich wusste, es niemals erreichen zu können, als Mikesch sich auf das Bett schlich und mit einem Satz auf Haralds sich bewegendes rechtes Bein unter der Decke stürzte, so wie es wohl alle Katzen tun, wenn sie spielen wollen, und weil es ihrem Trieb entspricht, das sich Bewegende zu greifen, stieß er ihn von sich, brüllte heftig, riss den Kater am Nacken in die Höhe und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Mikesch schrie entsetzlich. Auf den Boden gefallen blieb er liegen und gab keinen Laut mehr von sich. Einige Male zuckten seine Glieder. Einige Male blinzelte er mit den Augen. Vor Schmerz wohl setzte er zum Schrei an, doch verließ kein Ton sein Schnäuzchen. Nach einigen Minuten des Abwartens und sich Besinnens, stand Harald auf, ging zum Kater, sprach von Geborgenheit und Wärme, während ihm die Tränen über sein Gesicht liefen und streichelte Mikesch. Die Zärtlichkeit in Haralds Stimme, das Streicheln seiner Hände und die Wärme seines Körpers ließen den Kater die Schmerzen vergessen, und er begann vor Sehnsucht zu schnurren, erst ganz zart und ängstlich und dann immer heftiger und lauter. Später stellte der Tierarzt mehrere gebrochene Rippen fest.

Der Kater ängstigte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr, obwohl er sicherlich gern mit Harald gekuschelt, sich den Hals oder das weiche Fell auf seinem Bauch streicheln lassen hätte, zuckte er zusammen, war Harald in der Nähe oder verkroch sich hinter bzw. unter einem Möbel. Manchmal dann aber, wenn Harald wieder zärtlich auf den Kater einredete, ihm etwas besonderes zum Fressen mitbrachte, manchmal, wenn Harald weinte, sich von seinem Freund missachtet, gar verstoßen fühlte, kroch Mikesch hervor, vorsichtig, ganz langsam, sachte, schlich um seine Beine, rieb sein Fell an Haralds Hosen, miaute und schnurrte, schnurrte, als wäre die Angst nie gewesen.

Harald malte. Er hatte kein besonderes Talent, seine Bilder waren sehr ungenau, eher noch unsauber, es fehlte ihm an Technik, ein künstlerischer Ausdruck war ohnehin nicht vorhanden. Es fehlte ihm an Selbstkritik, wie übrigens der Mutter auch, eher fühlte er sich minderwertig und nutzte das Malen, wenn auch nicht bewusst, psychotherapeutisch. Wenn er jedoch malte, gab es für Harald währenddessen nichts anderes, schien er sich wohl, ja geborgen und sicher zu fühlen. Er nahm seinen Kater, setzte diesen neben das sich in Arbeit befindliche Bild und befragte den Kater nach dessen Gefallen. Mikesch tapste quer über die Blätter, verwischte die Farben, stieß ein Wasserglas um und zerbiss sogar einen Bogen. Kaum war das geschehen, als Harald ihn sich griff, mit der Schnauze in die Farben stieß, den Kater rüttelte und anschrie, ihm zur Strafe die Pfötchen mit einem Feuerzeug verbrannte. Das alles durchdringende Schreien Mikeschs half nicht. Haralds Blicke waren starr, ausdruckslos, kalt. Seine Lippen waren schmal, sein Mund, sein Gesicht zynisch verzerrt. Er hielt den Kater am Schwanz fest, riss ihn von seiner Hose, an der er sich Sicherheit suchend festkrallte und warf ihn in die Spüle, in der er ihn dann mit Wasser übergoss. Der Arzt meinte spöttisch, dass Harald doch, bei dem, was seinem Kater alles so zustoßen würde, Tierarzt werden sollte, um somit den Kater nach jedem dieser Vorfälle gleich medizinisch versorgen zu können. Diesen bösen Hinweis nahm er ernst.

In jedem Semester erlernte Harald Neues über die Behandlung von Tieren. Er war sehr gewissenhaft, gewissenhafter und ausdauernder als bei all seinen sonstigen Beschäftigungen und Versuchen, aus sich und seinem Leben etwas zu formen, was bis dahin immer nach kurzer Zeit kläglich scheiterte. Harald betrieb dieses Studium wie ein Lebenswerk. Diesmal wollte er gewinnen, diesmal würde er durchhalten, es schien ihm wie ein Überlebenskampf, es schien ihm, als müsste er sich zur Wehr setzen gegen die Angriffe des Katers, gegen dessen Liebe und Zuneigung, gegen dessen Schmerzen und Leiden, sogar gegen dessen Verständnis, trotz der Gewalt, die Harald ihm antat, gegen das Bleiben des Katers, ohne dessen Bleiben er aber auch unzufrieden gewesen wäre, ohne dessen Zuneigung, Vertrauen und Liebe er sich einsam gefühlt hätte, noch einsamer, als in diesem mit dem Kater veranstalteten Wechselspiel aus Hass und Zärtlichkeit, einer von Harald gewünschten Zärtlichkeit und eines in Harald gegen sich selbst entstehenden und geführten Hasses. Was auch immer während des Studiums erlernt wurde, Harald führte es an seinem Kater durch. Wurde gezeigt, wie ein gebrochener Knochen zu schienen sei, brach er Mikesch ein Bein, um es danach dann zu schienen und ihn gesund zu pflegen. Mikesch liebte Harald und soweit es ein Kater kann, fühlte er sich in dessen Nähe beheimatet, hatte trotz all der Begebenheiten das Gefühl eines Zuhauses, auf das er nicht mehr verzichten wollte, nicht mehr zurückkehren müssend in das Tierheim, was ehemals sein Zuhause gewesen war, ein schlechtes, und aus dem Harald sich diesen Kater ausgesucht hatte.

Haralds Operationen wurden mit den Jahren immer grauenvoller. Einmal zerstach er dem Kater ein Auge. Ein anderes Mal entfernte er ihm eines seiner Gedärme oder er schnitt ihm in die Zunge, um sie anschließend behutsam wieder zu nähen. Nur noch selten schrie Mikesch. Er versuchte zu verstehen, diese Form der Zuneigung anzunehmen und ihr etwas abzugewinnen. Spürte er, das Harald nach Hause kam, schlich er gleich an die Haustür, nicht weil er sich nach den ihm zugefügten Schmerzen sehnte, sondern weil sich ein Verstecken ohnehin nicht lohnte, weil es sicherlich erträglicher war, gleich behandelt zu werden, als nicht zu wissen, was heute wieder auf ihn zukommen sollte. Die Qualen des Wartens waren oftmals schlimmer, als der tatsächliche Schmerz. Und genau genommen hatte alles seinen Preis. Wer wollte schon wissen oder entscheiden, ob er zu hoch, ob zu niedrig oder auch richtig bemessen war. Wer wollte schon wissen, ob Liebe überhaupt einen Preis hatte, richtige Liebe einen hohen, keine Liebe vielleicht einen noch höheren Preis oder in beiden Fällen vielleicht sogar überhaupt kein Preis zu entrichten wäre, was unwahrscheinlich schien, insbesondere Harald unwahrscheinlich schien, musste er doch sein Leben lang Tribut zollen, wurde ihm doch immer wieder klar gemacht, wieviel Entbehrungen er verursachte, mit wieviel Leid die Liebe für und zu ihm verbunden war.

Mikesch war eigentlich ein gutmütiges, ja sanftes Tier. Wenn sich der Kater auch schon einmal gegen die Angriffe seines Freundes zur Wehr setzte, doch immer auch nicht mit der Stärke, wie es möglich gewesen wäre, sicherlich nie mit jener Härte, die ausschließlich tötet, wollte er doch selbst leben und wusste, dass das Töten den eigenen Tod nach sich zieht. Das jedoch war Harald nie bekannt. In ihm gebar sich der Tod. Sein Wesen strahlte langsames Sterben aus. Wo er war, war mit ihm auch Kälte, wo immer er auch liebte, folgte der Hass, insbesondere der Hass, der sich gegen ihn selbst richtete, jener Hass, der ihm deutlich hätte machen müssen, daß der Schritt nach vorn von ihm gegangen werden musste, dass eben dieser Schritt ein mit und für ihn war, trotz des Schmerzes, weil Entwicklung doch auch mit Schmerz verbunden ist.

Heute, so vereinbarten Mutter und Vater, wollten sie sich in der Stadt treffen, früher als sonst das Büro verlassen, gemeinsam ein Geschenk für ihren Jüngsten aussuchen, denn er hatte alle Prüfungen seines Studiums bestanden, alle schriftlichen, es bedurfte nur noch der Vorbereitung auf die mündliche, aber beide hatten das Gefühl, dass ihm auch hier nichts passieren könne, dass er sich, übrigens gerade auch für die Mutter überwältigend, zum ersten Mal in seinem Leben durchsetzen würde, einmal gewinnen, entgegen seiner Ausstrahlung, seiner Erziehung, entgegen der scheinbar schon Familientradition.

Die Haustür war zweimal verschlossen, ungewöhnlich, da beide der Ansicht waren, dass Harald sich in der Wohnung befand. In den Eingangsflur tretend, sahen sie Harald mit dem Rücken auf dem Boden liegend. In der Wohnungsluft lag der Geruch von Katzenfutter. Auf dem Teppich entdeckten sie Katzenhaare, sogar einzelne Büschel. Neben der Esszimmertür befand sich ein Futternapf mit Wasser, am Ende des Flures ein Katzenklo. Sie sahen das, obwohl sie doch beide wussten, niemals eine Katze gehabt zu haben, schon deswegen nicht, weil Harald gegen Katzenfell allergisch war und sie, Mutter, auch kaum Zeit fand, sich neben der Arbeit, dem Haushalt und der Familie noch um ein Tier zu kümmern. Nirgendwo war Blut zu sehen, obwohl Haralds Hals, seine Gurgel, seine Halsschlagader von mehreren Bissen einer Katze zerrissen worden sein mussten. Den toten Jungen vor sich, vor ihren Füßen liegen sehend, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie gab keinen Laut von sich, Vater berührte sie. Sie atmete tief durch und hatte das Gefühl der Erleichterung.

(aus dem Buch "Denkspiele")